Vierzig Grad im Schatten. Wann wird’s mal wieder richtig Sommer? von Rudi Carrell (1975)

Rudi Carrell

Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?

Wir brauchten früher keine große Reise,
wir wurden braun auf Borkum und auf Sylt.
Doch heute sind die Braunen nur noch Weiße,
denn hier wird man ja doch nur tiefgekühlt.
Ja, früher gab's noch hitzefrei, das Freibad war schon auf im Mai,
ich saß bis in die Nacht vor unsrem Haus.
Da hatten wir noch Sonnenbrand und Riesenquallen an dem Strand,
und Eis, und jeder Schutzmann zog die Jacke aus.

Wann wird's mal wieder richtig Sommer,
ein Sommer, wie er früher einmal war?
Ja, mit Sonnenschein von Juni bis September,
und nicht so naß und so sibirisch wie in diesem [Variation: letzten] Jahr.

Und was wir da für Hitzewellen hatten,
Pulloverfabrikanten gingen ein.
Da gab es bis zu 40 Grad im Schatten,
wir mußten mit dem Wasser sparsam sein.
Die Sonne knallte ins Gesicht, da brauchte man die Sauna nicht,
ein Schaf war damals froh, wenn man es schor.
Es war hier wie in Afrika, wer durfte, machte FKK,
doch heut – heut summen alle Mücken laut im Chor:

Wann wird's mal wieder richtig Sommer, [...]

Der Winter war der Reinfall des Jahrhunderts,
nur über tausend Meter gab es Schnee.
Mein Milchmann sagt: "Dies Klima hier, wen wundert's?
Denn schuld daran ist nur die SPD."
Ich find', das geht ein bißchen weit, doch bald ist wieder Urlaubszeit,
und wer von uns denkt da nicht dauernd dran?
Trotz allem glaub' ich unbeirrt, dass unser Wetter besser wird,
nur wann – und diese Frage geht uns alle an:

Wann wird's mal wieder richtig Sommer, [...]

     [Rudi Carrell: Wann wird’s mal wieder richtig Sommer? M Music 1975.]

 

Wer kennt nicht die Redewendung „Pass auf, was du dir wünschst – es könnte in Erfüllung gehen …“? Im Moment bringe ich sie fast zwanghaft mit Rudi Carrells musikalischem Stoßseufzer Wann wird’s mal wieder richtig Sommer? aus dem Jahr 1975 in Verbindung. Carrell (1934-2006) – jüngeren Generationen muss man das vermutlich erklären – war ein holländisches Entertainment-Genie, das in den 1970er Jahren die deutsche Fernsehunterhaltung mit zahlreichen Shows (Am laufenden Band, Rudis Tagesshow, Herzblatt u.a.) beherrschte wie kein anderer. Mit seinem Sommer-Sehnsuchtslied schien Rudi Carrell seinerzeit sogar die Wetterverantwortlichen aufgescheucht zu haben, denn nach relativ kühlem Start nahm der Sommer ’75 nach Carrells Klagehymne noch richtig Fahrt auf und entwickelte sich schließlich im August zu einem ausgewachsenen Jahrhundertsommer mit Hitzerekorden, die denen unseres Hochsommers 2015 kaum nachstanden. (Ich stelle mir das konkret übrigens ungefähr so vor, dass sich der Sommer ’75 beim Schafkopfen mit den Eisheiligen auf dem Greifenklau-Keller a wengala verweilt hatte, sich dann aber, von Carrells Schlager bei seiner Ehre gepackt, – in dieser Beziehung können Jahreszeiten heikel sein! – zusammenriss, vielleicht sogar mit einem kleinen Hörnla, sprich Zörnla an die Arbeit ging und nachgerad allen zeigte, was er so drauf hatte. Bamberger kennen dieses Verhaltensmuster aus eigener Erfahrung; andere dürfen diesen im Grunde irrelevanten populärpsychologischen Klammereinschub indes gerne und ohne schlechtes Gewissen überlesen.)

Musikalisch coverte Rudi Carrell hier bekanntlich Steve Goodmans (1948-84) Protestsong über den auch zuvor schon mehrfach besungenen berühmten amerikanischen Fernzug City of New Orleans (1971; zum Welthit geworden in der Version von Arlo Guthries, 1972). Goodman machte seinerzeit gegen unsoziale Entscheidungen der Regierung Richard Nixons (von 1969-1974 siebenunddreißigster Präsident der USA, musste wegen der sog. Watergate-Affaire zurücktreten) Front. Konkret wandte sich Goodman gegen die Befreiung privater amerikanischer Bahngesellschaften von der Betriebspflicht für Personenzüge, worauf es zu massenhaften Streckenstillegungen gekommen war. Auch in Carrells Sommerhit gibt es eine kleine politische Passage: die ironische Schuldzuweisung für das schlechte Wetter an die SPD, die seit 1969 als großer Koalitionspartner in einer sozialdemokratischen Bundesregierung agierte. Dieser Scherz kann vielleicht als witzige Reflexion auf den amerikanischen Prätext aufgefasst werden. Bei späteren Fernsehauftritten variierte und erweiterte Carrell – vermutlich im Sinne der vorgeschriebenen politischen Neutralität öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten – seine Schuldzuweisung, indem er auch andere Parteien für das schlechte Wetter verantwortlich machte. Zusätzlich montierte er jetzt Zitate politisch prominenter Personen als Entgegnungen in sein Lied ein. Da das komische Potential dieser Mini-Dialoge aus heutiger Sicht aber mehr als begrenzt erscheint, gehe ich nicht weiter darauf ein.

Carrells Schlagertext konkretisiert am Beispiel der Wahrnehmung des Wetters im Wesentlichen die verbreitete Empfindung erwachsener Menschen, dass früher ,alles irgendwie besser‘ gewesen ist: Der Erinnerung des Sprecher-Ichs nach waren die Sommer seiner Kindheit länger und heißer, die Winter entsprechend kälter und schneereicher als die der Gegenwart. Mit den extremeren Ausprägungen der Jahreszeiten verbindet die Sprecherinstanz lustvolle Erinnerungen bzw. Assoziationen – an hitzefreie Schultage, ,Schutzmänner‘ in unkorrekter Uniform, Freibadbesuche, Speiseeis, Riesenquallen, Sonnenbrände und FKK.

Die aufgezählten Attribute des früheren Sommererlebens lohnen durchaus eine nähere Betrachtung. Gemeinsam ist ihnen mehr oder minder die Eigenschaft, Intensität darzustellen; d.h. der Liedtext zählt auf, welche Dinge zu einem ,richtigen Sommer‘ gehören und welche Erfahrungen Menschen dabei machen können. Eine Reihe dieser Erfahrungen sind erkennbar aus der Perspektive von Kindern bzw. Jugendlichen geschildert, andere (vgl. die etwas holprig formulierte Pleite von Pulloverfabrikanten) entsprechen eher der Erwachsenensicht. Diese Ambivalenz ergibt sich aus der Redesituation: Carrell, der die Sprecherinstanz authentisch verkörpert, singt als 40jähriger Mann ein mehrheitlich erwachsenes Fernseh-Publikum an, regrediert passagenweise in seiner Phantasie aber in lustvolle Kindheitserinnerungen. Eine Vorstellung von den prüden Sitten deutscher Fernsehunterhaltung vor der Zulassung privater Sender vermittelt der politisch hyperkorrekte Zusatz „wer durfte“ zu „machte FKK“. Dieses winzige Detail verrät die Professionalität, mit der Carrell möglichen Fettnäpfchen aus dem Wege ging, und zeigt auf, wie sensibel man seinerzeit mit Programmbossen und Publikum umgehen musste, wenn man der beliebteste ,Showmaster‘ seiner Zeit sein wollte.

Auffällig ist vielleicht noch der Umstand, dass in der Reihe der Erinnerungen durchaus einige Phänomene wie große Quallen, Sonnenbrände, Wasserknappheit oder Mücken vorkommen, die man nicht ohne weiteres zu den positiven Gaben eines schönen Sommers rechnen würden. Allein im nostalgisch-verklärenden Blick der Sprecherinstanz verschwimmen auch diese Dinge zu einem wohligen Gesamt-Glücksgefühl einer intakten Welt mit einem verlässlichen Rhythmus der Natur, nach dem sie sich zurücksehnt.

Warum lohnt es sich heute, im August 2015 nach drei Wochen Hochsommer vom Feinsten (oder Schrecklichsten, je nachdem wie man mit der Hitze zurechtkommt), sich an Rudi Carrells Sommerhit von 1975 zu erinnern? Nun, ich denke, unser aktueller Sommer hat uns gelehrt, dass es auch für reifere Menschen, deren Kindheit und Jugend schon länger zurückliegt und ,verloren‘ scheint, noch ,richtige Sommer‘ bzw. – jetzt allgemeiner gesprochen und den ,Sommer‘ als Metapher für Glück aufgefasst – immer wieder intensive Lebenserfahrungen geben kann und dass man sich den Optimisten Carrell zum Vorbild nehmen darf, ja soll, der am Ende der dritten Liedstrophe seine Hoffnung nicht aufgibt, obwohl jeder Augenschein dagegen spricht. In diesem Sinne lege ich mir jetzt gleich ein paar Platten auf wie Regentropfen, die an dein Fester klopfen, Am Tag als der Regen kam und Schneeflöckchen, Weißröckchen

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Über deutschelieder
“Deutsche Lieder” ist eine Online-Anthologie von Liedtextinterpretationen. Liedtexte sind die heute wohl meistrezipierte Form von Lyrik, aber zugleich eine in der Literaturwissenschaft vergleichsweise wenig beachtete. Die Gründe für dieses Missverhältnis reichen von Vorurteilen gegenüber vermeintlich nicht interpretationsbedürftiger Popkultur über grundsätzliche Bedenken, einen Songtext isoliert von der Musik zu untersuchen, die Schwierigkeit, eine editorischen Ansprüchen genügende Textfassung zu erstellen, bis zur Problematik, dass, anders als bei Gedichten, bislang kaum ein Korpus von Texten gebildet worden ist, deren Interpretation interessant erscheint. Solchen Einwänden und Schwierigkeiten soll auf diesem Blog praktisch begegnet werden: indem erprobt wird, was Interpretationen von Songtexten leisten können, ob sie auch ohne Einbeziehung der Musik möglich sind oder wie eine solche Einbeziehung stattfinden kann, indem Textfassungen zur Verfügung gestellt werden und im Laufe des Projekts ein Textkorpus entsteht, wenn viele verschiedene Beiträgerinnen und Beiträger ihnen interessant erscheinende Texte vorstellen. Ziel dieses Blogs ist es nicht nur, auf Songtexte als möglichen Forschungsgegenstand aufmerksam zu machen und exemplarisch Zugangsweisen zu erproben, sondern auch das umfangreiche Wissen von Fans zugänglich zu machen, das bislang häufig gar nicht oder nur in Fanforenbeiträgen publiziert wird und damit für die Forschungscommunity ebenso wie für eine breite Öffentlichkeit kaum auffindbar ist. Entsprechend sind nicht nur (angehende) Literaturwissenschaftler/-innen, sondern auch Fans, Sammler/-innen und alle anderen Interessierten eingeladen, Beiträge einzusenden. Dabei muss es sich nicht um Interpretationen im engeren Sinne handeln, willkommen sind beispielsweise ebenso Beiträge zur Rezeptions- oder Entstehungsgeschichte eines Songs. Denn gerade die Verschiedenheit der Beiträge kann den Reiz einer solchen Anthologie ausmachen. Bei den Interpretationen kann es schon angesichts ihrer relativen Kürze nicht darum gehen, einen Text ‘erschöpfend’ auszuinterpretieren; jede vorgestellte Lesart stellt nur einen möglichen Zugang zu einem Text dar und kann zur Weiterentwicklung der skizzierten Überlegungen ebenso anregen wie zum Widerspruch oder zu Ergänzungen. Entsprechend soll dieses Blog nicht zuletzt ein Ort sein, an dem über Liedtexte diskutiert wird – deshalb freuen wir uns über Kommentare ebenso wie über neue Beiträge.

One Response to Vierzig Grad im Schatten. Wann wird’s mal wieder richtig Sommer? von Rudi Carrell (1975)

  1. Jochen Faulenbach says:

    Rudis Lied erschien, wie man lesen konnte, im Jahr 1975, (Habe es damals im TV live gesehen; ich fand es nett und nahm es nicht so bierernst) und er nimmt Bezug auf den Sommer 1974 (Zitat:…und nicht so kalt und so sibirisch, wie im letzten (!!!) Jahr, Also, was soll das ganze Gegeifer und Gezerre? Der Sommer 1974 war wirklich eine Lachnmmer, und zahlreiche selbst ernannte Klimaexperten prophezeiten damals allen Ernstes, dass wir einer neuen Eiszeit entgegen gehen!!! Kein Witz! 1975 tat sich der Sommer erst schwer, dann nahm er aber doch etwas Fahrt auf, wie ich anhand eigener Fotos (Gilt auch für den Sommer 74!!) beweisen kann. Dann kam der Sommer 76, und den nannte man lange Zeit den „Jahrhundert-Sommer“. Übrigens in den letzten 80er Jahren und auch noch in den 90ern sassen wir tatsächlich hin und wieder bis tief in die Nacht draußen und kühlten das Bier in Eimern mit Eiswürfeln, aber nie über einen längeren Zeitraum. Unvergessen waren seinerzeit die Sommer 1952 und 1959, als wir tatsächlich, vor allem 1959, bei Androhung hoher Geldstrafen keine Pools füllen durften, keinen Rasen sprengen durften, Autos durften nicht gewaschen werden, und vom Hochdrehen der Kühl- und Gefrierschränke wurde wegen der Gefahr der Überllastung des Stromnetzes dringend abgeraten. Wer erwischt wurde, durfte blechen! Das habe ich in den letzten 20 Jahren nicht mehr erlebt. Alles relativiert sich, in einem Rhythmus von ca. 7-9 Jahren. Und um den Menschen vorab Angst und Schrecken einzujagen, werdem mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder dieselben Horrormeldungen präsentiert, nur jeweils als neueste Erkenntnisse dargelegt. Klar, der Mensch ist von Natur aus vergeßlich! Schon auf der Grundschule (wir nannten sie Volksschule) lernten wir, dass wir in Deutschland wegen des Golfstromes in der Regel gemäßigte Winter und feuchte, kühle Sommer haben. Als unsere Familie 1956 in meinen jetzigen Wohnort umsiedelte, waren Schnee und zugefrorene Gewässer fast ein Fremdwort. Meine Mitschüler in der neuen Gegend verfügten über Skier, Gleitschuhe, Schlittschuhe und Rodel. Für mich damals völlig fremde Sporttartikel. Die brauchten wir in der Norddeutschen Tiefebene nicht. Dafür badeten wir in vollgelaufenen Sandgruben, Tümpeln, in der Ems oder im Kanal!.

    VG
    JF

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