Pop-Literatur. Zur atemberaubenden Popularität von Helene Fischers „Atemlos durch die Nacht“ (Text: Kristina Bach), vom Text ausgehend betrachtet
21. Juli 2014 4 Kommentare
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Helene Fischer (Text: Kristina Bach) Atemlos durch die Nacht (2013) Wir zieh’n durch die Straßen und die Clubs dieser Stadt, Das ist unsre’ Nacht, wie für uns beide gemacht, oho, oho Ich schließe meine Augen, lösche jedes Tabu Küsse auf der Haut, so wie ein Liebes-Tattoo, oho, oho. Was das zwischen uns auch ist, Bilder die man nie vergisst Und dein Blick hat mir gezeigt, das ist unsre’ Zeit Atemlos durch die Nacht, Bis ein neuer Tag erwacht Atemlos einfach raus Deine Augen ziehen mich aus! Atemlos durch die Nacht Spür, was Liebe mit uns macht Atemlos, schwindelfrei, Großes Kino für uns zwei Wir sind heute ewig, tausend Glücksgefühle Alles was ich bin, teil’ ich mit dir Wir sind unzertrennlich, irgendwie unsterblich Komm, nimm’ meine Hand und geh’ mit mir Komm, wir steigen auf das höchste Dach dieser Welt Halten einfach fest, was uns zusammen hält, oho, oho Bist du richtig süchtig, Haut an Haut ganz berauscht, Fall in meine Arme und der Fallschirm geht auf, oho, oho. Alles was ich will, ist da, große Freiheit pur, ganz nah, Nein wir wollen hier nicht weg, alles ist perfekt Atemlos durch die Nacht Spür’ was Liebe mit uns macht Atemlos, schwindelfrei, Großes Kino für uns zwei Wir sind heute ewig, tausend Glücksgefühle Alles was ich bin, teil’ ich mit dir Wir sind unzertrennlich, irgendwie unsterblich Komm nimm’ meine Hand und geh’ mit mir Atemlos Lust pulsiert auf meiner Haut Atemlos durch die Nacht Spür, was Liebe mit uns macht Atemlos, schwindelfrei, großes Kino für uns zwei Wir sind heute ewig, tausend Glücksgefühle Alles was ich bin, teil’ ich mit dir Wir sind unzertrennlich, irgendwie unsterblich Komm nimm’ meine Hand und geh’ mit mir Atemlos [Helene Fischer: Farbenspiel. Polydor 2013.]
Das Durchschnittsalter der Deutschen Fußballnationalmannschaft 2014 war zu Beginn der WM „grade mal 25 Jahr[e],“ wie die Berliner Zeitung mathematisch ausgebufft kalkulierte. Letzte Woche konnten 500.000 Besucher der Fanmeile vor dem Brandenburger Tor und weitere im Schnitt rund fünfeinhalb Millionen Menschen vor dem Fernseher hören und sehen: Die jungen Weltmeister sind eingefleischte Helene Fischer-Fans, beherrschen ihre Texte auch noch im Siegestaumel aus dem FF. Geht man davon aus, dass Fußballhelden für viele jüngere, gleichaltrige und ältere Menschen, also für alle sozusagen, eine trendsetzende Leitkultur vorleben, dann hat das Feuilleton jetzt ein Problem: Der wohlgepflegte Mythos, dass deutscher Schlager sich parasitär von den emotionalen Bedürfnissen strickpullovierter, weiblicher Mittfünfziger ohne ausreichende Englischkenntnisse (vgl. SZ) ernähre, wird von 11 Freunden und ihren Anhängern medienwirksam ins Abseits befördert
Zeitgenössischer Deutscher Schlager wie Helene Fischer ihn mit Atemlos durch die Nacht (2013) präsentiert spricht durchaus auch eine junge Generation (vgl. SZ) an und – wie im Folgenden gezeigt wird – auch zu ihr, in der Sprache der Gegenwart und der Gegenwartsliteratur. Ein Blick in die Verkaufsbilanz und TV-Marktanteile rund um den Nationalmannschafts-Favoriten Atemlos (2013) bestätigt schon einmal die gegenwärtige Popularität beim jungen Publikum in Zahlen: Allein durch Downloads wurde das Lied im Herbst 2013, noch bevor es auf Scheiben gepresst in den Handel kam, zu einem Charterfolg (vgl. Wikipedia). An diesem online-Erfolg müssen auch signifikant junge (oder zumindest jüngere) Leute beteiligt gewesen sein, da nur rund 10% der Generation Plüschpullover Schlager online erwerben (vgl. Morgenpost). 10% der jungen Zielgruppe zwischen 14 und 49 (ungefähr 500 000 bei rund 5 Millionen) wiederum haben sich Helenes Weihnachtshow mit dem Rest der Familie 2013 im ZDF angesehen (vgl. top.de). Zur Einordnung: Das liegt deutlich über dem Senderschnitt von 6,6 % in der Zielgruppe im Jahr 2012/13 (vgl quotenmeter.de).
Eine textliche Analyse zeigt, dass Atemlos durch die Nacht nicht nur aufgrund einer klugen Vermarktung und einer techno-angehauchten jungen Performance (vgl. offizielles Hochglanz-Musikvideo) das Potenzial hat, eine junge Zielgruppe anzusprechen, sondern auch mit seinem Liedtext selbst – wenn auch mit etwas literarhistorischer Zeitverzögerung, lässt sich der Text sprachlich-motivisch an junge Strömungen der Gegenwartsliteratur anbinden.
Helene Fischers Schlagerpop ist Pop-Literatur, atemlos gehetztes Gegenwartserlebnis, das mit seiner gereizten Körperlichkeit und seinen visuellen Kicks textlich an Christian Krachts Präsensodyssee Faserland (1995) erinnert, an die kokainsüchtige Eröffnungssequenz („It’s Six A.M. do you know where you are?“) aus dem Roman Bright Lights, Big City (1984) des popliterariserenden brats Jay McInerney und ein bisschen auch an Sybille Bergs körperwarme Menschlichkeit. Leben als verjüngende Rauscherfahrung.
Helene Fischers Schlager, ihre Texte (Atemlos durch die Nacht ist von Schlagerkollegin Kristina Bach verfasst), können als Teil ihres Erfolgs gesehen werden, weil sie die Sprache der Zeit sprechen, des post-poppigen 21. Jahrhunderts, und gleichzeitig die Schlagertradition wahren. Drei Wortfelder, die man mit der Pop-Literatur assoziieren kann, finden sich im Text und werden mit Schlagerklischees verschmolzen: das Visuell-Blickfixierte, eine über Haut kommunizierte Körperlichkeit und eine Faszination für das Erlebnis der Gegenwart.
Wie in der Pop-Literatur und vergleichbar auch mit NDW-Texten zum Beispiel von Heinz-Rudolf-Kunze (vgl. die Interpretationen zu Dein ist mein ganzes Herz und Balkonfrühstück), ist Liebe in Atemlos durch die Nacht nicht nur schlagerkonventionell glatt und sauber. Was die Drogendealerin Liebe mit dem Liebespaar macht, lässt sich nur schwer in Worte fassen: „Spür, was Liebe mit uns macht.“ Die Emotion wird über den Körper, die Sensorik transportiert. Sprache ist für dieses außerordentlich unordentlich Gefühl anscheinend nicht ausreichend. Die im Text bruchstückhaft aufblitzende Welt besteht nicht aus Wochenende und Sonnenschein, sondern ist ein einziges nächtlich-urbanes Schwindeltrauma. Atemlos durch die Nacht schildert einen Ausschnitt einer durchtanzten Nacht in verliebter Extase, hat ein bisschen etwas von einem Liebes-LSD-Rausch, wenig von einer immer wieder sonntags erklingenden Liebes-Tanz-Melodie, die der Sprechinstanz das Glück gebracht hat.
Freilich wimmelt es im Text von klassischen Schlagertopoi, soviel vorneweg, um die Spielverderber zu beruhigen. Die hyperbolischen „tausend Glücksgefühle“ schießen eine schlagerkonforme Ladung an Dopamin und Adrenalin in die Blutbahn, vernebeln die Sinne der Tanztaumeligen, machen die Nachtschwärmer „richtig süchtig“, „ganz berauscht“. Der „perfekte Moment“ wird besungen, in dem man alles hat, was man will, und aus dessen räumlich-zeitlicher Präsenz man nie wieder weg möchte. Aber diese Gegenwartsverhaftung ist pop-literarisch reflektiert. Die Dauer des Rauschmoments wird zur Unmöglichkeit, zum Paradoxon: „Wir sind heute ewig“ [Hervorhebung FS]. Die Ewigkeit verträgt sich nicht mit deiktischen Zeitwörtern, dem hier und jetzt. Ewig ist immer, nicht nur heute. Und wenn man es genau nimmt, ist diese Hier und Jetzt noch nicht mal ein ganzer Tag, sondern nur eine halbe Nacht bis im Morgengrauen „ein neuer Tag erwacht.“ Die im Text erlebte Ewigkeit existiert lediglich für den Bruchteil eines Lebens, im Wimpernschlag eines freien Falls, in den sich die Berauschten gegenseitig werfen. Schwindelfrei zu zweit allerdings: „Fall in meine Arme und der Fallschirm geht auf.“ Der erlebte Höhenrausch vom „Dach dieser Welt“ mischt sich in den und mit dem Schwindel der ganz großen Freiheit.
Die visuelle Motivik lässt ebenfalls keinen Stillstand zu, zeigt eine vorbeiziehende Gegenwart. Der Text schildert einen bewegten Moment, ein „großes Kino für […] zwei“. Anders als bei neueren Filmwiedergabegeräten gibt es im Kino eben keinen Pausenknopf, keine Rückspultaste oder kein Fastforward. Das Zelluloidband läuft weiter, präsentiert „Bilder, die man [zwar] nie vergisst,“ die aber unaufhaltsam vorwärtstreiben. Konsequenterweise gehen am Ende des Refrains die Zwei auch weiter und bleiben nicht im Moment der tausend Glücksgefühle stehen: „Komm nimm’ meine Hand und geh’ mit mir.“ Wohin? Das ist nicht gesagt, und das weiß man auch gar nicht. Die Zukunft ist unsichtbar, die Vergangenheit ein erinnertes Bild. Die Gegenwart ist ein atemloses Durchgangsstadium durch die Nacht.
In diesem berauscht-verliebten Tunnelblick wird das cineastisch geschulte Leitorgan Auge zum Akteur in einer flimmernden Welt: „[D]ein Blick hat mir gezeigt, / das ist unsre’ Zeit.“ Der personifizierte Blick wird zum Hauptmedium einer gegenwärtigen Welterfahrung. Das 21. Jahrhundert mit seinen touch screens und flüssigen Monitoren ist auf Sichterschließung aus. „Deine Augen ziehen mich aus!“ Letzteres ist ja in der Tat als angeblich funktionierendes visuelles Gimmick auf Handys installierbar. Nacktscanner. Wieder bricht eine paradoxe Motivkombination die glatte Präsentation des Augenblicks und lässt den Text ins Halluzinatorisch-Unmögliche abgleiten, sind doch die Augen des verschlungenen Liebes-GeWirs eigentlich von Beginn an der ersten Strophe geschlossen: „Ich schließe meine Augen“. Erst dieses Wenden ins Innere ermöglicht das Löschen eines jeden Tabus, sichtbarer Grenzen.
Im Liebesrausch verschließt das Ich die Augen vor einem sozialen Gefüge außerhalb des Gegenübers und einer alltäglichen Wirklichkeit. Diese wird am Anfang des Textes als raumzeitliche Verortung für den Leser oder Hörer noch in gemäßigten Parataxen eingeführt: „Wir zieh’n durch die Straßen und die Clubs dieser Stadt, / Das ist unsre‘ Nacht, wie für uns beide gemacht, oho, oho.“ Danach wird die syntaktische Struktur des Textes unruhiger, durch den Gebrauch von Parenthesen, Ellipsen und gehäuften Imperativen nervös und sprunghaft. Atemlos. Im nächtlichen Präsensstrom wird unmittelbar kommuniziert, sprachlos, über sich aneinanderreibende Häute: „Haut an Haut,“ „Küsse auf der Haut“ und den Plusschlag von „Lust […] auf meiner Haut.“ Taktiles in verschwommener Nacht. Das erinnert zum Beispiel an das ungeschminkte Körpergefühl in Texten Sybille Bergs.
Die radikale Aufgabe von Körpergrenzen im nokturnen Liebestanz bedient sich einer gängigen Motivik eines Literaten-Avantgardismus der 90er und 2000er: „Alles, was ich bin, teil’ ich mit dir / Wir sind unzertrennlich, irgendwie unsterblich.“ Das ich bin von Identität und Körper wird zum unzertrennlichen wir, einer körperlich-verliebten Einheit, und dadurch auf unerklärbare Weise – „irgendwie“ – unsterblich. Das Element der getanzten Körperauflösung und Identitätsverschmelzung findet sich, zum Beispiel, in Ernst-Wilhelm Händlers grenzenlos-polyperspektivischem Experiment Wenn wir sterben (2002) und dessen Disco-Anfang, in dem das Personelle verschmilzt, oder in der wörtlichem Umsetzung von aus der Haut fahrenden Charakteren oder aber in Thomas Hettches Wenderoman einer Nacht, nox (1995). Darin verweben sich anatomietheatralisch Maueröffnung und erotisch-schmerzhafte Körpererfahrung aus der erzählerischen Unsterblichkeit eines verwesenden Körpers heraus. Im begleitenden kulturwissenschaftlichen Diskurs sind Körper und Identität folglich ebenfalls keine festen Größen, sondern durchlässige Konstrukte. Mit seinen häutigen Motivketten funktioniert Fischers Lied in diesem Kontext.
Körper- und Bildtheorien, Haut- und Blickmetaphorik vermengen sich schließlich im Bild des „Liebes-Tattoo[s]“, das Küsse auf die Haut des Geliebten/der Geliebten (über das Geschlecht der Sprechinstanz lässt sich passenderweise nichts eindeutiges sagen) prägen. Das sichtbare Hautzeichen ist in eingeborenen Stammeskulturen Ausdruck einer bestimmten Zugehörigkeit, einer Identität mit einer Person oder Gruppe von Personen (und in diesem verschmelzenden Falle wohl auch von einer Person mit einer anderen). Das Tattoo ist auch Ausdruck von Lebensgeschichte(n), von dem, was war, sich in die eigene Identität einschreibt und diese bildet: Siege und Verluste auf der Haut. Tattoos sind immer auch Narben.
In der gegenwärtigen westlichen Kultur allerdings ist das Tattoo zu einer discotauglichen Massenware geworden, auch dieser aktuellen Mode trägt die Metapher (vielleicht unbewusst) Rechnung, ist auf der Höhe der Zeit. In diesem Kontext wiederum passt das „Liebes-Tattoo“ zur präsentischen Flüchtigkeit des geschilderten Nachtmoments. Das Kusstattoo hinterlässt keinen bleibenden (sichtbaren!) Eindruck, aber doch irgendwie eine spürbare, momentane Spur. Aufgrund der massenhaften Verwendung als populäre Hautverzierung ist das Tattoo seines ursprünglichen tribalhaften Sinns entleert, wird damit aber zugleich sinnliches Bild eines popimprägnierten Zeitgeists, in dem der Moment eines dumpfen Discobeats und aufblitzenden Laserlichts als körperlich-visuelles Signal durch die Nacht zieht und identitätsstiftend für eine junge Zielgruppe wirkt. Sind auch die Konventionen eines Schlagers in Atemlos durch die Nacht nie gänzlich verlassen, sind diese in Fischers Lied dennoch stimmig mit popliterarisch-zeitgenössigen Motivketten verwoben. Der Text nutzt ein flirrend-wirbelndes Pop-Literatur-Idiom ebenso wie die klassische Schlagersprache. Atemlos durch die Nacht ist zielgruppenpolyglott, spricht in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen unser Welt. So wie der Fußball ist Schlager ja irgendwie pop.
Florian Seubert, Bamberg
Hier eine hübsch polemische Gegenrede aus der FAS:
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/pop/helene-fischer-eine-erkundung-atemlos-durch-tag-und-nacht-13066335.html
Sehr interessant!Bitte den Rechtschreibfehler in der sechsten Zeile des letzten Absatzes ausmerzen („…zuglich…“ -> zugleich) 😀
Vielen Dank für den Hinweis – der Fehler ist korrigiert.
Martin Rehfeldt
Die atemberaubende Popularität eines Lieds und die damit einhergehende unausweichliche Ubiquität desselben zeigen sich natürlich auch an und in seinen Parodien: http://www.youtube.com/watch?v=FQniisyjpHo.
(Hier von Carolin Kebekus im Rahmen des Deutschen Comedy Preises 2014 gesungen, mit häufigem Bezug auf die eiförmige Geometrie des Trophäenobjekts und die lange Wartezeit während Preisverleihungen solcher Art.)