Tabuthema Republikflucht. Zur „Rockballade vom kleinen Otto“ der Klaus Renft Combo
26. Mai 2014 Hinterlasse einen Kommentar
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Klaus Renft Combo Rockballade vom kleinen Otto Seine Kinderjahre Lagen ihm im Magen Wie Steine, doch er weint nicht mehr Manchmal sagte Otto Leben ist wie Lotto Doch die Kreuze macht ein Funktionär! Ob ich nach Norden Ob ich nach Norden Ob ich nach Norden flieh? Als er mal ein Foto Sah vom großen Otto Aus Hamburg an der Reeperbahn Schrieb dem Namensvetter Er: Du bist mein Retter Der mir die Freiheit kaufen kann! Hol mich nach Norden Hol mich nach Norden Hol mich oder ich flieh! Die deutschen Mark, die harten Ließen auf sich warten Da ging er an die Autobahn Und fuhr ungefährdet Bis nach Wittenberge Dort sprang er auf´n Elbekahn Hol mich nach Norden Hol mich nach Norden Hol mich oder ich flieh! Nimm mich mit oh Kapitän Auf die Reise! Nimm mich mit oh Kapitän Durch die Schleuse! Nach dem Tütenkleben Wollt er nicht mehr leben Er fuhr nach Wittenberge rauf Und ging in die Elbe Die Stelle war die selbe Vielleicht taucht er in Hamburg wieder auf Hol mich nach Norden Hol mich nach Norden Hol mich oder ich flieh! [Renft-Combo: Live Rock Aus Leipzig (Originalaufnahmen 1972-75) Taraxacum Buchversand 1980.]
Wittenberge ist eine größere Kleinstadt im Nordwesten Brandenburgs und die bevölkerungsreichste Ortschaft der dünnbesiedelten Heidelandschaft Prignitz. „Das Tor zur Elbtalaue“ (vgl. Webseite der Stadt) liegt am nördlichen Ufer des von Südosten nach Nordwesten fließenden Flusses, der zu Zeiten der deutschen Teilung nur wenige Kilometer weiter unten zu einem innerdeutschen Grenzfluss wurde; ziemlich genau in der Mitte zwischen Hamburg, also der größten Stadt der alten Bundesrepublik mit einem am Ende jenes Flusses gelegenen Hafen als „Tor zur Welt“ (vgl. Webseite des Hamburg Hafens), und Berlin, dessen Osthälfte ja einmal die „Hauptstadt der DDR“ genannt wurde. Insofern ist Wittenberge kein ungeeigneter Ort, um deutsch-deutsche Geschichte zu erzählen.
Mittlerweile ist dieses Land schon eine ganze Weile wiedervereint. Uns stehen diesbezüglich einige Monate des Erinnerns bevor (vgl. Bundespräsident Joachim Gauck im Gespräch mit Reinhold Beckmann), der Mauerfall jährt sich heuer bereits zum fünfundzwanzigsten Mal. Entsprechend befindet sich nun auch schon seit stattlichen zwei Jahrzehnten eine Bassgitarre der Klaus Renft Combo im Bonner Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Webseite der Nachfolgeband Renft); und zwar – wie in einem Spiegel-Artikel von 1998 betont – „nur ein paar Meter entfernt von Helmut Kohls Strickjacke“.
Die prominent ausgestellte Bassgitarre repräsentiert also ein Stück deutsch-deutscher (Musik-)Geschichte: Aus in einem grundsätzlich rock´n´roll-feindlichen System aufbegehrenden – d.h. exzessiv anspielenden und ebenso exzessiv antrinkenden – Rockmusikern, die sich mit ihren ersten beiden Alben Widerständen zum Trotz ganz gut etablieren konnten, wurden Mitte der 1970er Oppositionelle und Inhaftierte, es folgten Übersiedlungen in den Westen und schwierige Neuanfänge sowie glücklicherweise auch noch einige Jahre als gefeierte Altrocker. Wesentlich geprägt wurde diese Entwicklung von der – dem Klang nach erkennbar durch westliche Vorbilder wie Deep Purple, Uriah Heep oder Pink Floyd inspirierten – Rockballade vom kleinen Otto (vgl. Wikipedia-Eintrag zu diesem Titel). Der Song, der ohne große Umschweife, Verklausulierungen, Chiffren etc. von einer schwierige Kindheit im Sozialismus (Strophe 1), von Westkontakten (Strophe 2), von einer gescheiterte Republikflucht (Strophe 3) und von einem auf zermürbende Haft folgenden Selbstmord (Strophe 4) erzählt, entstand Ende 1974. Ab Anfang 1975 reagierte die Staatsmacht mit Auftrittsverboten, soweit ging die zu Beginn der Ära Honecker eingeleitete Liberalisierung, welche Kunstwerke beschwor, „die durch ihre Wirklichkeitsnähe, Volksverbundenheit und Parteilichkeit ergreifen, packen und darum begeistert aufgenommen werden“ (Rede Erich Honeckers auf dem VIII. Parteitag), dann leider doch nicht.
Im Zuge einer Rückschau auf die Bandgeschichte erklärt Sänger Thomas Schoppe den unerhörten Mut zur außerordentlich direkten Provokation mit einem Verweis auf einen „naive[n] Glaube[n,] irgendwie durchzukommen“. Zudem erinnert er sich an „ein Gefühl, tief unbewusst, auf der Suche nach Erlösung von den Zwängen“. Gerade so „[a]ls hätte uns eine innere Stimme angetrieben: ‚Macht weiter, bringt euch in Gefahr‘.“ (Interview Deutsche-Mugge mit Thomas Schoppe, 2008, hier zit. nach renft.de) Bei all dem, was man heute über die DDR weiß, erscheint es bedauernswerterweise nur allzu konsequent, dass der Text des Schlagzeugers Gerulf Pannach von offizieller Seite abgelehnt wurde und den Musikern massiven Ärger einbrachte: Die Kritik an einem System, in dem nicht das Individuum, sondern ein „Funktionär“ bestimmt, wie das Leben verläuft; die Imagination eines westdeutschen „Retter[s]“, der „mir die Freiheit kaufen kann“; die Bezugnahme auf die „harten“ „deutschen Mark“ und die Beschreibung einer Möglichkeit zur Überwindung der Grenzanlagen der DDR; der Umstand, dass „Tütenkleben“ auf „nicht mehr leben“ gereimt wurde – all das war dazu prädestiniert, dass sich die ängstlichen „Funktionär[e]“ im Kultusministerium wie im Ministerium für Staatssicherheit dadurch herausgefordert fühlten.
Dass der „kleine Otto“ nicht explizit nach Westen geholt werden bzw. „flieh[en]“ will, sondern den „großen Otto“ im „Norden“ sucht (vgl. hierzu den variierten Refrain bei Auftritten in Dresden und Chemnitz), hat die tatsächliche „Wirklichkeitsnähe, Volksverbundenheit und Parteilichkeit“ des Songs kaum abgeschwächt. Mitte 1975 musste sich eine zermürbte Combo auflösen, Ende 1976 – nach Unterzeichnungen des Protests gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns – saß die Hälfte der Band im Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen, danach gingen Klaus Renft, Thomas Schoppe, Christian Kunert und Gerulf Pannach nach West-Berlin. Nicht dorthin schaffte es leider Hans-Georg Lemme: im August 1974 scheiterte sein Versuch, einige Kilometer unterhalb von Wittenberge durch die Elbe zu fliehen, seine Leiche wurde erst im September geborgen (vgl. Forschungsverbund des SED-Staats).
Martin Kraus, Bamberg