Tauf- und Schlaflied. Wilhelm Heys „Weißt du, wieviel Sternlein stehen“
31. März 2014 3 Kommentare
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Wilhelm Hey
Weißt du, wieviel Sternlein stehen
Weißt du wieviel Sternlein stehen
an dem blauen Himmelszelt?
Weißt du wieviel Wolken gehen
weithin über alle Welt?
Gott, der Herr, hat sie gezählet,
dass ihm auch nicht eines fehlet,
an der ganzen großen Zahl,
an der ganzen großen Zahl.
Weißt du wieviel Mücklein spielen
in der heißen Sonnenglut?
Wieviel Fischlein auch sich kühlen
in der hellen Wasserflut?
Gott, der Herr, rief sie mit Namen,
daß sie all’ ins Leben kamen,
daß sie nun so fröhlich sind,
daß sie nun so fröhlich sind.
Weißt du, wieviel Kinder frühe
stehn aus ihrem Bettlein auf,
Dass sie ohne Sorg und Mühe
fröhlich sind im Tageslauf?
Gott im Himmel hat an allen
seine Lust, sein Wohlgefallen,
kennt auch dich und hat dich lieb,
kennt auch dich und hat dich lieb.
„Text: Wilhelm Hey 1837“ vermerkt das Evangelische Gesangbuch zum Lied 511. Aber wer war das?
Wilhelm Hey (1789-1854) war zunächst Hauslehrer und Internatserzieher, wurde dann Gemeindepfarrer in Töttelstedt bei Erfurt und später Hofprediger in Gotha und Superintendent (wir würden heute Dekan sagen) in Ichtershausen bei Arnstadt. Er war im 19. Jahrhundert einer „der wichtigsten Schriftsteller der Kinderliteratur“. Seine „einfachen, kindgemäß gereimten Fabeln und Lehrgedichte“ wurden „ein Welterfolg“ (Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch, Bd. 2, S. 152). Vöglein im hohen Baum, Wie fröhlich bin ich aufgewacht und Alle Jahre wieder kommt das Christuskind kennen viele von uns heute noch.
Damals allerdings wurden die 1833 und 1837 erschienenen beiden Bände mit Kinderfabeln nicht unter Heys Namen bekannt, sondern als „Specktersche Fabeln“ mit dem Namen des Illustrators Speckter verbunden. Sie wurden, durch das verlegerische Geschick von Friedrich Perthes, d a s „deutsche Bilderbuch des 19. Jahrhunderts schlechthin“ (Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch Band 3 Heft 9 S. 53).
Dort also, im zweiten Band von 1837, wurde das Lied zu ersten Mal gedruckt, fast wörtlich in der Fassung, die wir heute im Gesangbuch haben. Es hieß noch „Sterne“, nicht „Sternlein“, die „Sonnenglut“ in Strophe 2 war noch nicht „heiß“ sondern „hell“ und in Strophe 3 stand „ihren Bettlein“, wo heute der Singular ihrem steht.
So wenige Änderungen bei einem Lied, das fast 200 Jahre alt ist, sind selten. Das liegt daran, dass Hey sein Lied für ein Buch geschrieben hat, das Kinder verstehen und dessen Texte sie sich einprägen sollten. Er schrieb also einfach, klar und ungekünstelt.
„Melodie: Volkslied um 1818“ sagt das Gesangbuch. Die neuere Forschung hat aller-dings herausgefunden, dass diese Angabe korrigiert werden muss, weil die Weise be-reits 1809, nicht erst 1818 für das Soldatenlied O du, Deutschland, ich muß marschieren belegt ist. Auf diese Melodie entstand dann 1823 das Liebeslied So viel Stern am Himmel stehen, das Hey zu seiner Dichtung angeregt haben könnte. Der verliebte Sänger führt darin nämlich aus, wie oft er seine Liebste grüßt und er zählt dabei „Sterne“, „Schäflein“ und „Vöglein“ auf.
Aber was macht der Autor aus dieser Anregung? Beim genauen Hinsehen erkennen wir, dass sein Lied voll kluger und vertrauensvoller Frömmigkeit steckt und in enger Anlehnung an die Bibel geschrieben ist.
Alle drei Strophen beginnen mit der Frage „Weißt du?“
1. Weißt du, wieviel Sternlein stehen
an dem blauen Himmelszelt?
Weißt du, wieviel Wolken gehen
weithin über alle Welt?
Gott der Herr hat sie gezählet,
daß ihm auch nicht eines fehlet
an der ganzen großen Zahl,
an der ganzen großen Zahl.
Aber diese Frage nach der Anzahl der Sterne und Wolken, in Str. 2 der Mücken und Fische und in Str. 3 der Kinder wird gar nicht beantwortet. Sie braucht auch nicht beantwortet zu werden, denn es ist eine rhetorische Frage. Der Hinweis auf den Sternenhimmel soll Unendlichkeit und Unzählbarkeit ausdrücken und an Gottes Allmacht erinnern. Nur Gott weiß, welche Menge er wirklich meint. Er verspricht Abraham so viele Nachkommen, wie er Sterne am Himmel sieht (1. Mose 15,5; 22,17) und er gibt sie ihm auch (5. Mos 1,10). Im zweiten Teil fährt dann jede Strophe mit „Gott der Herr“ fort.
2. Weißt du, wieviel Mücklein spielen
in der heißen Sonnenglut,
wieviel Fischlein auch sich kühlen
in der hellen Wasserflut?
Gott der Herr rief sie mit Namen,
daß sie all ins Leben kamen,
daß sie nun so fröhlich sind,
daß sie nun so fröhlich sind.
Nur Gott kann diese unvorstellbare Zahl erfassen und nur er kennt auch die Namen der Lebewesen, die er geschaffen hat (Hiob 38,37, Psalm 147,7; Jes. 40, 26). In jedem Taufgottesdienst stellen unsere Pfarrer immer wieder neu die Unverwechselbarkeit des Menschen heraus, die mit diesem „Namen kennen“ verbunden ist. Der Name macht uns einmalig, er identifiziert uns und es ist etwas Beglückendes, wenn wir wissen dürfen, dass Gott uns bei dem Namen kennt (Jes. 43,1), den wir in der Taufe empfangen haben.
Als ich bei der Wiedervereinigung Deutschlands in die ehem. DDR versetzt wurde, habe ich als erstes für alle meine Mitarbeiter das Tragen von Namensschildern befohlen. Das war bis dahin dort wegen der übertriebenen Geheimhaltung unvorstellbar gewesen, die es verbot, dass einer den anderen kannte. Vor allem aber sollte dort der „sozialistische Mensch“ ein funktionierendes Rädchen sein, kein Individuum mit eigenem Willen und Vorstellungen. Genau das gegenteilige Signal wollte ich mit den Namensschildern setzen: Wir wollten die Mitarbeiter mit Namen nennen können, um dadurch zu erkennen geben, dass wir den Menschen als etwas Einmaliges respektieren. Es sollte aber auch erkennbar werden, dass unsere Mitarbeiter von nun an verantwortlich für das sind, was sie tun, und sich nicht hinter dem „Kollektiv“ verstecken können. Genau das ist es, was Gott uns sein lässt: ein eigenständiger Mensch, der einen freien Willen besitzt und den er in seiner Besonderheit aus Milliarden anderer Lebewesen herauskennt und zur Verantwortung ruft, dem er aber vor allem seine Liebe zusagt. Und mit dieser Zusage schließt das Lied:
3. Weißt du, wieviel Kinder frühe
stehn aus ihrem Bettlein auf,
daß sie ohne Sorg und Mühe
fröhlich sind im Tageslauf?
Gott im Himmel hat an allen
seine Lust, sein Wohlgefallen;
kennt auch dich und hat dich lieb,
kennt auch dich und hat dich lieb.
Dass Gott an seiner Schöpfung seine Lust, sein Wohlgefallen hat, steht schon im Schöpfungsbericht. Und dass Jesus die Kinder besonders liebt und jedes von ihnen lieb hat, wird in jedem Taufgottesdienst vorgelesen und mit diesem Lied gesungen. Und das ist gut so. Man kann es auch als Erwachsener nicht oft genug hören.
Andreas Wittenberg, Bamberg
Ein grosses Lied. Einfach und dennoch tiefschürfend. Danke, Low, http://hinterindien.com
Lieber Herr Wittenberg, da sind Sie mir doch zuvorgekommen! ,Weißt Du, wieviel Sternlein stehen‘ war mein Lieblings-Kinderlied. Es funktionierte bei mir – damals in den 1950er und frühen 1960er Jahren – genau so tröstend, existenzversichernd und beglückend, wie Sie seine Intention charakterisiert haben. Und auch als Erwachsener befiel mich immer starke Rührung, wenn ich diese einfache Melodie und den schlichten Text zufälligerweise zu hören bekam. Eine neue Aktualität erhielt das Lied für mich vor einigen Monaten durch die Enthüllungen des sog. whistleblowers Edward Snowden, der uns über das irre Ausmaß der amerikanischen und britischen Spionage- und Datensammeltätigkeit informierte. Spontan war da die Assoziation zum alt-vertrauten Kinderlied da: Weißt Du, wieviel Sternlein, Mücklein, Fischlein, Menschlein etc.? Nun ich nicht, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit die NSA!
An diese Assoziation schloss sich dann aber ein Prozess des Nachdenkens an: Wieso geht vom Kinderlied mit seinem allwissenden Gott soviel Beruhigung aus, von den allwissenden (oder wenigstens alles wissen wollenden) Geheimdiensten aber – ganz im Gegenteil – soviel Bedrohungspotential, so viele Ängste und Besorgnisse? Und das, obwohl sie uns versichern, dass Überwachung und Datenspeicherung zu unserem Besten unternommen werden, uns vor bösen Verbrechern, Steuerhinterziehern und sonstigen Terroristen schützen? Ein bisschen nehme ich ihnen diese Argumentation sogar ab, speziell seit ich mit den Cyberwar-Thrillern von Daniel Suarez („Daemon“ etc.) in Berührung gekommen bin. Dennoch bleibt als Fazit festzuhalten: Wenn die NSA weiß, wieviel Sternlein stehen bzw. Fischlein springen“, finde ich diese Vorstellung absolut verstörend. Sie wiegt mich nicht in den Schlaf, sondern raubt mir denselben.
Vermutlich macht es einen fundamentalen Unterschied, ob die ,wissende Instanz‘ eine diesseitige oder eine transzendente ist. Mit Trost, Beruhigung und Existenz-Versicherung ist es allerdings sofort wieder vorbei, sobald sich jemand ,Diesseitiges‘ als verlängerter Arm jener transzendenten Instanz begreift und entsprechend aufführt.
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