Kirchenlieder aus dem Reformationsjahrhundert: Martin Luthers Adventslied „Nun komm, der Heiden Heiland“ (1524)
2. Dezember 2013 Hinterlasse einen Kommentar
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Martin Luther
Nun komm, der Heiden Heiland
Nun komm, der Heiden Heiland,
der Jungfrauen Kind erkannt,
dass sich wunder alle Welt,
Gott solch Geburt ihm bestellt.
Er ging aus der Kammer sein,
dem königlichen Saal so rein,
Gott von Art und Mensch, ein Held;
sein’ Weg er zu laufen eilt.
Sein Lauf kam vom Vater her
und kehrt wieder zum Vater,
fuhr hinunter zu der Höll
und wieder zu Gottes Stuhl.
Dein Krippen glänzt hell und klar,
die Nacht gibt ein neu Licht dar.
Dunkel muss nicht kommen drein,
der Glaub bleib immer im Schein.
Lob sei Gott dem Vater g’tan;
Lob sei Gott seim ein’gen Sohn,
Lob sei Gott dem Heilgen Geist
immer und in Ewigkeit.
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ältere Version:
Nu kom der Heyden heyland /
der yungfrawen kynd erkannd.
Das sych wunnder alle welt /
Gott solch gepurt yhm bestelt.
Nicht von Mans blut noch von fleisch /
allein von dem heyligen geyst /
Ist Gottes wort worden eyn mensch /
vnd bluet eyn frucht weibs fleisch.
Der yungfraw leib schwanger ward /
doch bleib keuscheyt reyn beward
Leucht erfar manch tugend schon /
Gott da war yn seynem thron.
Er gieng aus der kamer seyn /
dem könglichensaal so reyn.
Gott von art vnd menscheyn hellt /
seyn weg er zu lauffen eyllt.
Seyn laufft kam vom vatter her /
vnd keret wider zum vater.
Fur hynvndtern zu der hell /
vnd wider zu Gottes stuel.
Der du bist dem vater gleich /
fur hynnaus den syegym fleisch /
das dein ewig gotsgewalt /
ynnvnns das kranck fleysch enthallt.
Dein kryppen glentzt hell vnd klar /
die nacht gybt eyn new liecht dar /
tunckel muß nicht komen dreyn /
der glaub bleib ymer ym scheyn.
Lob sey Gottd em vatter thon /
Lob sey got seym eyngen son.
Lob sey got dem heyligen geyst /
ymer vnnd ynn ewigkeyt.
Will man Luthers Adventslied Nun komm, der Heiden Heiland interpretieren, so muss man zunächst bis in das Jahr 386 zurückgehen. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt nämlich schrieb der Kirchenvater Ambrosius von Mailand (339-397) den lateinischen Hymnus Veni Redemptor Gentium, auf dem das Lied basiert.
Der Hymnus erfreute sich im deutschsprachigen Raum seit jeher großer Beliebtheit. Übersetzungen vor Luther stammen von Heinrich von Laufenberg (Kum Har, Erlöser Volkes Schar, 1418) oder von dem späteren Führer der „Radikalen Reformation“, Thomas Müntzer (O Herr, erloeser alles volcks, 1524).
Interessant ist Luthers Übersetzung auch, weil sie ein Schlaglicht auf seine Übersetzungspraxis wirft. Anders als in seinem berühmtem Fazit aus dem Jahr 1530 in seinem Sendbrief vom Dometschen, „man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen“, gefordert, hält er sich zu diesem Zeitpunkt (1524) noch sehr stark an den lateinischen Grundtext. Der Zwiespalt zwischen Umgangssprachlichkeit und Adhärenz zu lateinischen Urtexten wird aber bereits hier deutlich. In diesem Fall entschied sich Luther stärker auf eine Übersetzung nah am Original zu setzen. Er tat dies so sehr, dass drei seiner Strophen (zwei, drei und sechs) schwer verständlich wurden und dadurch nicht in alle modernen Fassungen übernommen wurden.
Luthers Entscheidung, so nah am Original zu arbeiten, muss in einen historischen Kontext gesetzt werden. Es ist nicht überliefert, wann genau Luther seine Übersetzung anfertigte, doch stammt sie vermutlich aus dem selben Jahr, in dem er Andreas Karlstadt und Müntzer für ihre radikalen Ansichten verurteilte (1524) und letzterer eine Übersetzung des selben Liedes anfertigte. Müntzers Übersetzung war wesentlich freier und umgangssprachlich geprägt. Ein Beispiel: Das Veni im ersten Vers der ersten Strophe des lateinischen Originals, welches Luther korrekt als kom(m) übersetzte, wird von Müntzer komplett ignoriert und der erste Vers lautet in seiner Übersetzung stattdessen O Herr, erloeser alles volcks. Ironischerweise übersetzte Müntzer in diesem Fall somit näher an der später von Luther formulierten Übersetzungstheorie.
Das Lied kann auch als frühes Bekenntnis zur protestantischen Traditionsbildung verstanden werden. Im Zuge der Reformation wurde den Lutheranern immer wieder vorgeworfen, dass ihre Lehren falsch oder häretisch seien, weil der Protestantismus keine Geschichte, keine Tradition aufweisen konnte. Der Rückgriff auf Kirchenväter wie Ambrosius und das Historisieren von Glaubensdoktrinen war eine Möglichkeit, dem Protestantismus eine Tradition zu geben.
Inhaltlich kann festgehalten werden, dass das Lied – typisch für ein Adventslied – mit dem Ausdruck des Wunsches nach dem baldigen Erscheinen des Erlösers beginnt. Das erste Wort des Liedes ist, im Lateinischen und im Deutschen, im Imperativ Präsens geschrieben (veni, kom[m]) und stellt daher auch den Bezug zur Gegenwart her. Christus wird aufgefordert, zu erscheinen. Solch ein erwartungsfroher Wunsch ist durchaus verständlich in religiös so chaotischen Zeiten. Ebenfalls erwähnenswert ist der starke Bezug auf die ganze Welt. Auch dies kann in einen historischen Kontext gesetzt werden: In der Frühphase der Reformation hofften viele der Reformatoren, auch Luther, dass Gott bald seine Zufriedenheit mit dem Luthertum und Ablehnung des Katholizismus zeigen würde. In diesem Lied wird deshalb auch ausgedrückt, dass Luther auf eine baldige Bekehrung der ganzen Welt, inklusive Katholiken und Juden, hoffte.
Zentraler Topos des Liedes ist die Menschwerdung Christi, die bereits in der ersten Strophe hervorgehoben wird (Gott solch Geburt ihm bestellt). Die paradoxe Natur dieser Menschwerdung wird noch deutlicher der zweiten Strophe und dritten Strophe thematisiert. Mit diesem Fokus auf die Trinität wird auch das theologische Konzept der Wesensgleichheit (Homousie) hervorgehoben. Die Rolle Marias wird ebenfalls betont und kann mit der großen Präsenz der Mutter Gottes, auch im evangelischen Glauben (vgl. z.B. Bridget Heal: The Cult of the Virgin Mary in Early Modern Germany: Protestant and Catholic Piety, 1500-1648. Cambridge: Cambridge University Press 2007), in Verbindung gebracht werden. Während viele andere Heilige vollständig von Luther abgelehnt wurden, spielte Maria, wenn auch in veränderter Form, weiterhin eine wichtige Rolle.
Die Menschwerdung als Weg wird in der vierten Strophe mit einem erneuten Verweis auf die menschlichen und göttlichen Eigenschaften Christi („Gott von Art und Mensch, ein Held“) thematisiert. Das Komma in diesem Vers ist nötig um Klarheit zu schaffen. Das Lateinische kann die Doppelnatur Christi präziser mit einem Wort (geminae) ausdrücken.
Die nächste Strophe ist sehr interessant, weil sie in nur vier Versen die Leidensgeschichte Christi wiedergibt. Jesus „fuhr hinunter zu der Höll / und wieder zur Gottes Stuhl“. In diesen zwei Zeilen wird die Leidensgeschichte und Wiederauferstehung thematisiert. Passend zu Luthers Vorstellung von Musik wird das Leiden auf ein Minimum reduziert und stattdessen postwendend die Auferstehung zelebriert (vgl. z.B. Albrecht Beutel [Hg.]: Luther Handbuch. Stuttgart: Mohr Siebeck 2010). Luthers nächste Strophe betont nochmals die Zweigestalt Jesu und verweist mit dem Vers „ynnvnns das kranck fleysch enthallt“ auf Christi Bereitschaft, unsere Sünden auf sich zu nehmen.
Schließlich behandelt die vorletzte Strophe die Großartigkeit Gottes. Die beliebte Metapher des Lichts, welches eine Vielzahl von meist positiven Eigenschaften symbolisierte, wird in den Mittelpunkt gestellt. Aus der Nacht kommt ein Licht, das für immer scheinen soll. Wieder ist hier das lutherische Verständnis der Kirchengeschichte wichtig: In Luthers (und später auch Melanchthons) Verständnis erfuhr die Kirche und Religion nach dem Ableben der großen Kirchenväter einen Verfall, verfiel in eine Dunkelheit, die bis in das frühe 16. Jahrhundert hinein anhielt. Nun ‚gibt die Nacht ein neues Licht dar‘, das Licht des Evangeliums. Die Verse „dunkel muss nicht kommen drein, / der Glaub bleib immer im Schein“ besagen auch, dass die Lutheraner sich, ihrer Religion bewusst, nicht vor den Katholiken fürchten müssen. Dass der Glaube „immer“ präsent war, drück auch aus, dass es stets einige wenige gab, die die Kirche reformieren wollten und das deshalb das Luthertum eine lange Geschichte besitzt.
Das Lied endet mit einem Lobpreis, welcher nicht im Original des Ambrosius vorhanden war, sondern im Mittelalter hinzugefügt wurde. Passend ist dieser besonders, weil er das zentrale Thema des Liedes – Gottes Wesen und Jesu paradoxes Erscheinen als Mensch und Gott – nochmals aufgreift. Das Lied fand weite Verbreitung und wurde u.a. von Johann Sebastian Bach in Chorälen benutzt. Es ist nachvollziehbar, warum Luther gerade dieses Lied so früh in seiner Laufbahn zum Übersetzen auswählte, spiegelt es doch viele Themen des frühen 16. Jahrhunderts und des aufkeimenden Luthertums wieder.
Martin Christ, Oxford