Das Politische ist privat. Zu „Westerwelle“ von Funny van Dannen
7. Oktober 2013 Hinterlasse einen Kommentar
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Funny van Dannen Westerwelle Ich fand mich immer ziemlich sympathisch, trotz einiger seltsamer Macken Aber seit gestern gibt es etwas, daran habe ich echt zu knacken Es war nur ein Traum, doch was heißt das schon, das macht es ja nur noch schlimmer Ich habe scheinbar Neigungen, davon hatte ich keinen Schimmer Dabei war ich mir so sicher, ich hätte auf alles geachtet Aber gestern Nacht hat Guido Westerwelle bei mir übernachtet Ja gestern Nacht hat Guido Westerwelle bei mir übernachtet Jetzt frage ich mich natürlich, bin ich schwul oder liberal Oder bisexuell oder alles zusammen oder ist mir schon alles egal So etwas passiert nicht einfach so, das ist nicht nur Fantasie Nein damit ist nicht zu spaßen, das ist Tiefenpsychologie Ich weiß, dass auch ihr enttäuscht seid und dass ihr mich zutiefst verachtet Denn gestern Nacht hat Guido Westerwelle bei mir übernachtet Ja gestern Nacht hat Guido Westerwelle bei mir übernachtet Ich weiß nicht, wie es dazu kam, alles wirkte unglaublich vertraut Vielleicht habe ich in den letzten Jahren zu oft in die Glotze geschaut Wir haben uns prima verstanden, wir haben auch sehr viel gelacht Und ich schäme mich, aber es ist die Wahrheit, ich hab ihm auch noch Frühstück gemacht Jetzt wisst ihr es, ich bin ganz anders, als ihr wahrscheinlich dachtet Denn gestern Nacht hat Guido Westerwelle bei mir übernachtet Ja gestern Nacht hat Guido Westerwelle bei mir übernachtet Jetzt bin ich natürlich auf alles gefasst, ich weiß jetzt, ich bin ein Ferkel Ich muss mit dem Schlimmsten rechnen; eine Nacht mit Angela Merkel Obwohl, man soll ja fair sein, eine Steigerung gibt es noch: auf dem '58er Jahrgangstreffen, einen Tango mit Roland Koch. [Funny van Dannen: Herzscheiße. Trikont 2003.]
„Das Private ist politisch“ lautete der zentrale Satz der ‚Politik der ersten Person‘, wie sie in der Frauenbewegung der 1970er Jahre vertreten wurde. Dieser Satz beinhaltet die Forderung, gerade auch im Zwischengeschlechtlichen auf politisch erhobenen Forderungen zu insistieren. In Funny van Dannens Lied erlebt das Sprecher-Ich zu seinem Leidwesen eine Umkehrung dieser Grenzaufhebung: Das Politische erweist sich plötzlich als privat, ja intim, indem ein Akteur des Politikbetriebs in seinen Träumen auftaucht – und zwar nicht als Figur der Politik, sondern als liebenswerte Person.
Ein solches Erlebnis mag irritierend sein, aber warum stürzt es das Sprecher-Ich gleich in eine Identitätskrise? Zunächst einmal wäre hier sein offenbar an der (Freud’schen) Traumdeutung orientierte Traumverständnis zu nennen. Träume sind demnach nicht „nur Phantasie“ (die zudem aus psychoanalytischer Sicht nicht minder aufschlussreich wäre), sondern tiefenpsychologisch aufschlussreich: „Ich habe scheinbar Neigungen, davon hatte ich keinen Schimmer“ („scheinbar“ wird hier wohl umgangssprachlich im Sinne von „anscheinend“ gebraucht und impliziert somit nicht, dass sich der Verdacht als unbegründet erweisen werde). Auch dass die Erklärung, Westerwelle könne aufgrund seiner hohen massenmedialen Präsenz seinen Weg in den Traum als ‚Tagesrest‘ gefunden haben („Vielleicht habe ich in den letzten Jahren zu oft in die Glotze geschaut“), das Sprecher-Ich nicht beruhigt, ist vor dem Hintergrund der Traumdeutung nachvollziehbar, denn ein solcher findet nur dann Eingang in den Traum, wenn er mit einem unbewussten, verdrängten Wunsch verknüpft ist. Genau diesen versucht das Sprecher-Ich zu ergründen.
Dabei zieht es als Möglichkeiten die zwei in der Öffentlichkeit präsentesten Attribute Westerwelles in Erwägung: Seine Homosexualität und seine Parteizugehörigkeit. Die Aussicht, mit Positionen der FDP zu sympathisieren, beunruhigt das Sprecher-Ich dabei ebenso wie die, homo- oder bisexuelle Neigungen zu haben. Der Sprecher scheint sich also analog zur ‚sexuellen Identität‘ eine ‚politische Identität‘ zuzuschreiben, die er bis zu seinem Traum als stabil betrachtet und offenbar sogar bewusst vor sie eventuell verändernden Einflüssen geschützt hat („Dabei war ich mir so sicher, ich hätte auf alles geachtet“).
Im weiteren Verlauf des Textes legt er sich dann offenbar darauf fest, dass Westerwelle nicht aufgrund seiner Homosexualität sondern seiner politischen Positionen eine Rolle in seinem Traum gespielt hat: Denn er fürchtet nicht Träume mit weiteren prominenten Homosexuellen, sondern mit weiteren Politikern – dass es sich dabei um Konservative handelt, ermöglicht es, die politische Identität des Sprecher-Ichs näher zu bestimmen: Dass ihm der damalige FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle, die CDU-Vorsitzende Angela Merkel und der hessische CDU-Ministerpräsident Roland Koch als Klimax des Schreckens erscheinen, deutet darauf hin, dass er sich selbst und seine Peer-Group, von der er Verachtung für seinen Traum erwartet, politisch eher links verortet.
Neben ihrer politischen Positionierung besteht eine weitere Gemeinsamkeit der Genannten in ihrer hohen medialen Präsenz. Guido Westerwelle hatte mit dem „Projekt 18“ (u.a. mit einer gelben „18“ auf den Schuhsohlen) sowie dem „Guidomobil“ den Wahlkampf der FDP geführt und die Popper-Ästhetik der 1980er Jahre rekultiviert. Angela Merkel stand als Oppositionsführerin im medialen Fokus, wobei ihre – damals noch nicht von Udo Walz hergestellte – Frisur Anlass zu diversen, selten lustigen Scherzen sowie zu einem BILD-Aufruf, eine neue Frisur für sie zu wählen, bot. Roland Koch schließlich profilierte sich mit Aktionen wie der Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft als Rechtsaußen der CDU.
Das Sprecher-Ich treibt nach seinem Westerwelle-Traum nun vordergründig die Angst um, dass mit der medialen Präsenz ein Gewöhnungseffekt eingesetzt habe und aus der sachlichen eine politische und emotionale Vertrautheit geworden sei. Betrachtet man diese Angst nun wiederum, wie für den Traum vom Sprecher-Ich selbst vorgeschlagen, psychoanalytisch, so lässt sich vermuten, dass es nicht lediglich um eine Verunsicherung ob der eigenen politischen Präferenzen geht. Wovor der Sprecher tatsächlich Angst hat, darüber gibt der fiktive Anlass des Tangos mit Roland Koch Aufschluss: Das Ich ist Jahrgang 1958, also zum Veröffentlichungszeitpunkt des Liedes 45 Jahre alt und somit im besten Midlife-Crisis-Alter. Vor diesem Hintergrund wird die zunächst verwunderliche Intensität der Irritation, die sein Traum auslöst, verständlich. Denn politisch linke Auffassungen implizieren meistens ein Aufbegehren gegen bestehende Verhältnisse und weisen damit eine Nähe zu einer emotionalen Verfasstheit auf, die in der Adoleszenz und Postadoleszenz verbreitet ist. Somit kann das Aufgeben entsprechender Positionen zugunsten solcher, die die bestehenden Verhältnisse affirmieren, assoziiert werden mit dem Älterwerden – und damit, aus noch an Idealen der Jugend orientierter Perspektive, mit einem Identitätsverlust durch Sich-Einfügen („Irgendwann werde ich mich intergrieren“ lautet in eben diesem Sinne der Kehrreim eines späteren Lieds von Funny van Dannen, in dessen Strophen jeweils verbreitete Verhaltensweisen und Einstellungen aufgezählt werden, von denen das Sprecher-Ich annimmt, es werde sie zu einem späteren Zeitpunkt übernehmen). So erweisen sich Politisches und Privates tatsächlich als untrennbar, wenn auch in einem ganz anderen Sinne, als es die Politik der ersten Person gefordert hatte: Nicht das Private wird als Kampfplatz des Politischen begriffen, sondern die politischen Auffassungen als Ausdruck der individuellen Lebenssituation.
Martin Rehfeldt, Bamberg