Reih dich ein in die Fahrgästeeinheitsfront. Zu „Mensch Meier“ von Ton Steine Scherben

Ton Steine Scherben

Mensch Meier

Mensch Meier kam sich vor wie ne Ölsardine, 
irgendjemand stand auf seinem rechten großen Zeh. 
Das passierte ihm auch noch in aller Hergottsfrühe 
im 29er kurz vor Halensee. 
Der Kassierer schrie: "Wer hat noch keinen Fahrschein?" 
und Mensch Meier sagte laut und ehrlich: "Ick!" 
"Aber ick fahr schwarz und füttere mein Sparschwein" 
Und der Schaffner sagte: "Mensch, bist du verrückt?" 
Doch Mensch Meier sagte: 

"Nee, nee, nee, eher brennt die BVG! 
Ich bin hier oben noch ganz dicht, 
der Spaß ist zu teuer, von mir kriegste nüscht! 
Nee, nee, nee, eher brennt die BVG! 
Ich bin hier oben noch ganz dicht, 
der Spaß ist zu teuer, von mir kriegste nüscht!" 

Und da sagte einer, du hast recht Mensch Meier, 
was die so mit uns machen, ist der reine Hohn. 
Erst wolln'se von uns immer höhere Steuern 
und was se dann versieben, kostet unseren Lohn. 
Doch der Schaffner brüllte: "Muß erst was passier'n? 
Rückt das Geld raus oder es geht rund. 
Was ihr da quatscht, hat mich nicht zu interessieren, 
und wenn ihr jetzt nicht blecht, dann kostet das 'n Pfund!" 
Da riefen beide: 

"Nee, nee, nee, eher brennt die BVG! 
Ich bin hier oben noch ganz dicht, 
der Spaß ist zu teuer, von mir kriegste nüscht! 
Nee, nee, nee, eher brennt die BVG! 
Ich bin hier oben noch ganz dicht, 
der Spaß ist zu teuer, von mir kriegste nüscht!"

"Halt mal an, Fritz!" brüllt da der BVG Knecht, 
"Ick schmeiß den Meier raus und hol die Polizei." 
Doch die Leute riefen: "Sag mal, bist du blöd, Mensch? 
Wir müssen arbeiten, wir haben keine Zeit. 
Und wenn die da oben x-Millionen Schulden haben, 
dann solln'ses bei den Bonzen holen, die uns beklauen. 
Du kannst deinem Chef bestellen, wir fahr'n jetzt alle schwarz, 
und der Meier bleibt hier drin, sonst fliegst du raus!" 
Und da riefen alle: 

"Nee, nee, nee, eher brennt die BVG! 
Ich bin hier oben noch ganz dicht, 
der Spaß ist zu teuer, von mir kriegste nüscht! 
Nee, nee, nee, eher brennt die BVG! 
Ich bin hier oben noch ganz dicht, 
der Spaß ist zu teuer, von mir kriegste nüscht

     [Ton Steine Scherben: Mensch Meier. David Volksmund 1972.]

Da hat sich nichts verändert: Immer wieder erhöhen die Verkehrsbetriebe ihre Preise, immer wieder ärgert man sich darüber. Immer wieder stellt sich einem die Frage, ob man jetzt wirklich dieses „unerhört teure Ticket“ kaufen oder nicht doch schnell „die paar Stationen“ schwarz fahren soll. Entsprechende Situationen und Diskussionen gab es natürlich auch schon früher, etwa im Jahre 1971. Ton Steine Scherben sangen ein Lied davon: Mensch Meier hieß ursprünglich in direktem Bezug auf die Berliner Verkehrsbetriebe „BVG-Song“. Anlass war eine von dieser BVG vorgesehene Preiserhöhung. Die Botschaft fiel eindeutig aus: Mensch Meier ist ein Loblied auf das Schwarzfahren, eine ausdrückliche Aufforderung zum Nichtzahlen.

Die „Politrock“-Band Ton Steine Scherben repräsentiert für uns heute vor allem eine spezifische (sub-)politische und (sub-)kulturelle Stimmung in einer gewissen Zeit. Noch feierlicher formuliert: sie lieferte die „musikalischen Untermalung der APO“ (Indiepedia) und steht damit für ein bestimmtes Kapitel bundesdeutscher Geschichte (vgl. Literaturkritik.de). Wenn man nun ihre Alben hört, hört man diese Geschichte mit. Folglich erscheint es nicht verkehrt, bei einer Betrachtung ihrer Texte deren jeweilige Kontexte etwas genauer zu beachten. Nicht nur aufgrund der anhaltenden Beliebtheit der Band lässt sich dazu recht leicht recherchieren (vgl. Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Roter-Punkt-Aktion): Mensch Meier wurde im Dezember 1971 als sogenannte „Flugplatte“ durch das selbst gegründete Label David Volksmund veröffentlicht. Mit dieser Single wurden Rock-Rezipienten angesprochen, die gegen eine Fahrpreiserhöhung eingestellt waren, bzw. gegen eine solche aufgebracht werden sollten. Konkret richtete sich der Protest gegen zum März 1972 geplante Teuerungen von bis zu zwanzig Prozent. Auch in anderen Städten der Bundesrepublik war bereits über solche signifikanten Preissprünge gestritten worden. Als Vorbild dienten seit 1969 die geglückten Protestaktionen von Hannover. Unter dem Aktionsnamen „Roter Punkt“ hatte man dort so widerstandfähig Demonstrationen, Blockaden und Fahrgemeinschaften organisiert, bis schließlich auf einen Preisanstieg verzichtet und stattdessen ein neuer öffentlicher Verkehrsverbund gegründet worden war. Ähnliche Versuche – etwa 1971 in Dortmund – scheiterten. In Berlin galt es nun, wieder einen Erfolg zu erringen. Mensch Meier sollte dazu beitragen.

Im Präteritum wird von einem Gesprächswechsel in der Straßenbahn erzählt, durch Angabe von Ort („im 29er kurz vor Halensee“) und Zeit („in aller Herrgottsfrühe“) wird ein gewisser Realismus vorgegeben. Bloß zu Beginn geht es kurz um die Befindlichkeit der Figur Meier in jener unkomfortablen ‚Ölsardinendose‘. Dann folgen nur noch direkte Rede und Inquit-Formeln. Neben Meier meldeten sich dabei erst der Schaffner, dann ein zweiter Passagier und schließlich alle Fahrgäste gemeinsam zu Wort. Das Konzept ist denkbar einfach, eine ähnliche programmatische Steigerung findet sich etwa auch in Allein machen sie dich ein, die Aufforderung zur Verbrüderung durchzieht das gesamte Scherben-Werk. Erst stand Meier mit seiner Haltung gegenüber dem Schaffner alleine da, in der zweiten Strophe stimmte ihm dann „einer“ zu, in der dritten Strophe zeigten sich letztlich alle Fahrgäste solidarisch. Entsprechend war es anfangs nur Meier, der den ersten Refrain „sagte“, daraufhin „riefen beide“ und schließlich „riefen alle“.

Obwohl das Lied seinen Namen trägt, tritt „Mensch Meier“ nicht als herausragender Protagonist in Erscheinung, er geht letztlich in der Masse auf. Schon mit seinem Allerweltsnamen ist er ein Otto Normal. Freilich ist hier nicht vom „Bürger Meier“ die Rede, schon gar nicht vom „Verbraucher Meier“, es geht betont um den Menschen. Als solcher taucht er auch noch in einem anderen Lied auf, das auf dem Album Keine Macht für Niemand erschien: Im Rauch-Haus-Song ist der einfache Berliner erst Zaungast der Auseinandersetzung um das Bethanien, dann trifft er seinen an den Besetzungen beteiligten Sohn. Er fungiert so als Identifikationsfigur auch für ältere potentielle Zuhörer. Als Bewohner eines Zweizimmer-„Lochs“ schimpft er die auf die Wohnungspolitik, die „die da oben“ vollführen (Rauch-Haus-Song). Das Gegeneinander der Generationen löst sich in einem Gegeneinander der Klassen auf.

Jene Wut auf eben „die da oben“ eint auch die Passagiere im Bus. Es geht gegen die Politiker mit ihren „immer höhere[n] Steuern“ und „x-Millionen Schulden“ sowie gegen die „Bonzen […], die uns beklauen“. Das könnte man als gereimte „Stammtischaussagen“ bezeichnen. Der kleine Mann muss alles ausbaden, es kostet „unsern Lohn“, jetzt muss Schluss damit sein. Im Zorn, so die Botschaft, liegt die Kraft zur Veränderung der Verhältnisse, man müsse sich nur zusammentun. Als unmittelbarer Gegner tritt hier der Schaffner auf. Aber der ist nur ein „BVG-Knecht“, der seinem „Chef bestellen“ soll, dass jetzt alle schwarzfahren – danach reiht er sich im besten Fall selbst bei den Aufständischen ein. Diese Gleichheit drückt sich auch auf sprachlicher Ebene aus. Alle – die Passagiere wie der Schaffner – verwenden den selben „Code“, alle berlinern munter drauf los („Ick“, „nüscht“). Was hier zitiert wird, soll wohl des Volkes Mund entsprechen.

Umgekehrt mag man sagen, dass dem Volk hier die Protestformeln „vorgekaut“ werden. Zweck des Liedes ist die Agitation, die Leitlinie ist dabei klar zu hören: „von uns kriegste nüscht“ und „eher brennt die BVG“. Tatsächlich kam es dann Anfang 1972 gehäuft zu Vorkommnissen, bei denen West-Berliner Passagiere sich kollektiv weigerten, ihre Fahrkarten zu zeigen. Problematischerweise kam es auch zu Brandanschlägen. Wer sich politisch aus dem Fenster lehnte, musste immer damit rechnen, dass man ihm das ankreidet – da hat sich im Grunde ebenfalls nichts verändert. Trotzdem hört man Ton Steine Scherben-Lieder heute nicht mehr so „verbissen“ wie damals, vierzig Jahre später ist Mensch Meier eher zu einer Quelle für einen unterhaltsamen Geschichtsunterricht geworden.

Martin Kraus, Bamberg

Über deutschelieder
“Deutsche Lieder” ist eine Online-Anthologie von Liedtextinterpretationen. Liedtexte sind die heute wohl meistrezipierte Form von Lyrik, aber zugleich eine in der Literaturwissenschaft vergleichsweise wenig beachtete. Die Gründe für dieses Missverhältnis reichen von Vorurteilen gegenüber vermeintlich nicht interpretationsbedürftiger Popkultur über grundsätzliche Bedenken, einen Songtext isoliert von der Musik zu untersuchen, die Schwierigkeit, eine editorischen Ansprüchen genügende Textfassung zu erstellen, bis zur Problematik, dass, anders als bei Gedichten, bislang kaum ein Korpus von Texten gebildet worden ist, deren Interpretation interessant erscheint. Solchen Einwänden und Schwierigkeiten soll auf diesem Blog praktisch begegnet werden: indem erprobt wird, was Interpretationen von Songtexten leisten können, ob sie auch ohne Einbeziehung der Musik möglich sind oder wie eine solche Einbeziehung stattfinden kann, indem Textfassungen zur Verfügung gestellt werden und im Laufe des Projekts ein Textkorpus entsteht, wenn viele verschiedene Beiträgerinnen und Beiträger ihnen interessant erscheinende Texte vorstellen. Ziel dieses Blogs ist es nicht nur, auf Songtexte als möglichen Forschungsgegenstand aufmerksam zu machen und exemplarisch Zugangsweisen zu erproben, sondern auch das umfangreiche Wissen von Fans zugänglich zu machen, das bislang häufig gar nicht oder nur in Fanforenbeiträgen publiziert wird und damit für die Forschungscommunity ebenso wie für eine breite Öffentlichkeit kaum auffindbar ist. Entsprechend sind nicht nur (angehende) Literaturwissenschaftler/-innen, sondern auch Fans, Sammler/-innen und alle anderen Interessierten eingeladen, Beiträge einzusenden. Dabei muss es sich nicht um Interpretationen im engeren Sinne handeln, willkommen sind beispielsweise ebenso Beiträge zur Rezeptions- oder Entstehungsgeschichte eines Songs. Denn gerade die Verschiedenheit der Beiträge kann den Reiz einer solchen Anthologie ausmachen. Bei den Interpretationen kann es schon angesichts ihrer relativen Kürze nicht darum gehen, einen Text ‘erschöpfend’ auszuinterpretieren; jede vorgestellte Lesart stellt nur einen möglichen Zugang zu einem Text dar und kann zur Weiterentwicklung der skizzierten Überlegungen ebenso anregen wie zum Widerspruch oder zu Ergänzungen. Entsprechend soll dieses Blog nicht zuletzt ein Ort sein, an dem über Liedtexte diskutiert wird – deshalb freuen wir uns über Kommentare ebenso wie über neue Beiträge.

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