Inniger Abschied – Friedrich Silchers „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus“
5. März 2012 Hinterlasse einen Kommentar
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Friedrich Silcher/Heinrich Wagner Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus, und du, mein Schatz, bleibst hier! Wenn i komm’, wenn i komm’, wenn i wieder-, wiederkomm’, kehr’ i ein, mein Schatz, bei dir! Kann i auch net immer bei dir sein, hab’ i doch mei Freud’ an dir! Wenn i komm’, wenn i komm’, wenn i wieder-, wiederkomm’, kehr’ i ein, mein Schatz, bei dir. Wie du weinst, wie du weinst, dass i wandere muss, wandere muss, wie wenn d’Lieb jetzt wär vorbei! Sind au drauß, sind au drauß der Mädele viel, Mädele viel, lieber Schatz, i bleib dir treu. Denk du net, wenn i a andre seh, no sei mei Lieb vorbei; sind au drauß, sind au drauß der Mädele viel, Mädele viel, lieber Schatz, i bleib dir treu. Übers Jahr, übers Jahr, wenn mer Träubele schneid’t, Träubele schneid’t, stell i hier mi wiedrum ein; bin i dann, bin i dann dein Schätzele noch, Schätzele noch, so soll die Hochzeit sein. Übers Jahr, do ist mein Zeit vorbei, do g’hör i mein und dein; bin i dann, bin i dann dein Schätzele noch, Schätzele noch, so soll die Hochzeit sein. [Deutsche Volkslieder. Texte und Melodien. Stuttgart: Reclam, 2011, S. 123-125; Groß-/ Kleinschreibung der Versanfänge harmonisiert.]
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Im populären deutschen Liedgut wurden und werden Abschiedssituationen häufig besungen, allein das Volksliederarchiv verzeichnet derzeit 84 einschlägige Titel. Nicht erfasst sind darin Schlager, Popsongs und neuere Lieder aus populären Fernsehserien. Bei starker Konkurrenz (Ade zur guten Nacht, Auf Wiederseh’n, Sag beim Abschied leise Servus, Gute Nacht, Freunde, Wer hat an der Uhr gedreht? etc.) besetzt ausgerechnet ein Lied in schwäbischem Dialekt unangefochten den Spitzenplatz der Hitliste. Gründe für diese Erfolgsgeschichte lassen sich viele ausmachen: Melodie, Innigkeit der entworfenen Abschiedssituation, Verlauf des Kanonisierungsprozesses, Eignung des Titels für Abschiedsrituale aller Art, speziell auch militärische, internationale Popularisierung durch Übersetzungen und berühmte Interpreten wie Marlene Dietrich oder Elvis Presley (1960 im Film G.I. Blues bzw. Café Europa, zunächst unter dem Titel Wooden Heart). Während der „King“ 1961 mit Wooden Heart sechs Wochen lang die britischen Charts anführte, erreichte in den USA Joe Dowell mit seiner Version die Spitzenposition der Billboard Hot 100.
Erstmals fassbar ist das Lied in einer auf das Jahr 1827 zu datierenden Publikation des bekannten Komponisten, Pädagogen und Musikdirektors der Tübinger Universität Friedrich Silcher (1789-1860), der anonyme ältere Überlieferungen von Text und Melodie aufgriff und um zwei Strophen von Heinrich Wagner ergänzte. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde der auch als Wanderlied aufgefasste Titel in vielen Anthologien wie dem Österreichischen Studentenliederbuch (1888), im Gesellenfreund (1913), Kriegsliederbuch für das Deutsche Heer 1914, im Sport-Liederbuch (1921), in Lieb Vaterland (1935) oder Deutsche Volkslieder. Texte und Melodien (2001) abgedruckt. Vgl. ausführlich zur Überlieferungsgeschichte das Historisch-kritische Liederlexikon.
Die im Lied thematisierte Abschiedsszene zwischen zwei jungen Liebenden geht in ihrer Ambivalenz zwischen naiver Redlichkeit und realistischer Wahrnehmung des Risikos auch dem abgebrühten Zeitgenossen unter die Haut. Es spricht der junge Mann, der sich gezwungen sieht, sein „Städtele“ zu verlassen, zu seinem „Schätzele“. In der ersten Strophe macht er klar, dass ihn mitnichten eigenes Streben, womöglich gar Übermut oder Neugier in die Welt hinaus und von der Liebsten hinweg treiben, sondern schlichte Notwendigkeit. Zugleich versichert er, zu ihr zurückzukommen; das „wenn“ ist hier eindeutig temporal gemeint, nicht konditional. In der Zwischenzeit wird ihn, so gibt er ihr zu wissen, das Bewusstsein wärmen, zu Hause einen Schatz zu haben: „Kann i auch net immer bei dir sein, / hab’ i doch mei Freud’ an dir!“ Diesem Sprecher glaubt man jedes Wort – welch ein Unterschied zur Trennungsrhetorik in Tim Bendzkos „Nur noch kurz die Welt retten!“ (Vgl. meine entsprechende Interpretation in diesem Blog.)
Die beiden Zusatzstrophen des Stuttgarter Gelegenheitsdichters Heinrich Wagner zum traditionellen Textbestand steigern humane Tiefe und Innigkeit dieses Abschiedsliedes beträchtlich. Mit der zweiten Versgruppe wendet sich der Scheidende der Liebsten zu; er sieht sie weinen und interpretiert dies als Sorge um seine Treue. Ja, er wird „draußen“ in der Welt viele andere Mädchen treffen, aber es bestehe kein Anlass zur Sorge – er wird seinem Schatz treu bleiben. Die dritte Strophe konkretisiert die in Aussicht gestellte Heimkehr auf die Zeit des kommenden Herbstes (im Sinne der traditionellen Formel „über Jahr und Tag“) und formuliert ein Heiratsversprechen. Besonders bemerkenswert erscheint mir hier aber die hinzugesetzte Klausel: „Bin i dann, bin i dann / dein Schätzele noch, Schätzele noch, / so soll die Hochzeit sein.“ Das lyrische Ich rechnet offensichtlich mit der situativ auch nicht unrealistischen Möglichkeit, dass seine lange Abwesenheit ihr Liebesverhältnis auflösen könnte. Nach seinem gerade geleisteten Treueversprechen sieht er die Gefahr dafür aber nur auf Seiten des Mädchens, seiner eigenen Gefühle ist er sich sicher. Wahrhaft anrührend wird diese Klausel durch den Umstand, dass er keinerlei Druck auf die Geliebte ausübt, das eigene Treueversprechen zu erwidern. Er bietet ihr Sicherheit, ohne für sich selbst dergleichen zu fordern. Dies ist eine wunderbar selbstlose, hier aber völlig schlicht und beiläufig erbrachte Geste, die in einer reifen Liebe gründet, die man einem solch jungen, unerfahrenen Burschen kaum zutrauen möchte.
Die zeitliche Einordnung des Vorgangs ist alles andere als zufällig. Das Trennungsgeschehen muss im Herbst stattfinden, denn zur nächsten Traubenernte will man sich wieder treffen: „Übers Jahr, do ist mein Zeit vorbei, / do g’hör i mein und dein;“ vor den beiden Liebenden liegen zunächst harte Wintermonate, die selbstverständlich auch metaphorisch zu deuten sind. Übersteht man diese, darf man auf einen neuen Frühling hoffen; bewährt sich das Paar, wird die geübte Treue Frucht tragen: „Übers Jahr, übers Jahr, / wenn mer Träubele schneid’t, Träubele schneid’t, / stell i hier mi wiedrum ein.“ Eine weitere Anmerkung verdient noch der kleine Hinweis auf das ,Wandern“ im ersten Vers der zweiten Strophe. Hier erfahren wir etwas über die Ursache der anstehenden Trennung. Der Sprecher muss sich auf die in vorindustriellen Zeiten obligatorische Wanderung eines zünftigen Handwerksgesellen begeben, um sich in der Fremde für die Meisterschaft zu qualifizieren. Damit ist implizit mitgedacht, dass er auch wandern muss, um die gesellschaftliche und finanzielle Basis zur Gründung eines Hausstandes zu schaffen – d.h. seine Trennung von der Liebsten dient funktional der Vorbereitung des erwünschten Happyends. Die Übernahme der Marschpolka ins Repertoire deutscher Wandervögel stellt angesichts dieses Kontexts eine melodisch nachvollziehbare, vom Text her aber recht willkürliche Interpretation dar.
Ebenso wenig dürften die Schöpfer dieses Liedes das deutsche Militärwesen im Sinn gehabt haben, dessen Kapellen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diese Melodie regelmäßig intonieren, wann immer irgendwo Soldaten in Marsch gesetzt werden. Tobias Widmaier weist im Historisch-kritischen Liederlexikon noch auf besonders zynische Verwendungsweisen dieses gefühlvollen Volksliedes in den Jahren der Naziherrschaft hin, als man es Opfern auf dem Weg in die KZs und Vernichtungslager hinterhersang: „Wenn i komm, wenn i komm, wenn i nie wieder komm“ (dazu ausführlich auch Martin Ruch: Das Novemberpogrom 1938 und der „Synagogenprozeß“ 1948 in Offenburg. Verfolgte berichten, Täter stehen vor Gericht. Willstätt 2008, S. 26).
Hans-Peter Ecker (Bamberg)