Begrenzte Leidenschaft – Fritz Löhner-Bedas ironische Tangoballade „Oh, Donna Clara“

Fritz Löhner-Beda

Oh, Donna Clara

In einer dämmrigen Diele
tanzt die Spanierin jede Nacht.
In diesem edlen Profile
ist die Saharet neu erwacht.

Und ein Genießer aus Posen,
er schickt ihr täglich 'nen Strauß roter Rosen,
denn er hat wilde Gefühle
und er flüstert heiß, wenn sie lacht:

Oh, Donna Clara – ich hab dich tanzen gesehn,
und deine Schönheit hat mich toll gemacht!
Ich hab im Traum dich dann im Ganzen gesehn,
das hat das Maß der Liebe vollgemacht!
Bei jedem Schritte und Tritte
biegt sich dein Körper genau in der Mitte
und herrlich gefährlich sind deine Füße, du Süße, zu sehn.
Oh, Donna Clara – ich hab dich tanzen gesehn
oh, Donna Clara – du bist wunderschön!

Er zählt schon fünfzig Lenze,
doch er ist von ihr ganz behext.
Und bis zur äußersten Grenze
Seine Leidenschaft heute wächst.

Er ist ein Kaufmann, ein schlichter,
jedoch die Liebe, sie macht ihn zum Dichter
und zur Musik ihrer Tänze
schreibt er glückberauscht einen Text:

Oh, Donna Clara [...]

Doch der Genießer aus Posen
ist ins Heimatland bald entflohn,
denn viel zu viel kosten Rosen,
die man täglich schenkt ohne Lohn.

Doch in der trauten Familie,
nach Gansbraten mit viel Petersilie,
fällt ihm das Herz in die Hosen,
denn auf einmal singt's Grammophon:

Oh, Donna Clara [...]


Der Tango ist als neues Musikgenre und neuer Tanzstil in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im multikulturellen Milieu der Vorstädte am Rio de la Plata entstanden. Überwiegend männliche Einwanderer aus vielen europäischen Ländern (zur Hälfte Italiener), aber auch aus vorderasiatischen Staaten wie Armenien und Syrien strömten damals ins prosperierende Argentinien, um dem heimischen Elend zu entfliehen. Sie vermischten sich in den Slums von Buenos Aires, Montevideo und Rosario mit argentinischen Bauern, Gauchos und Kriminellen und entdeckten im Tango eine Möglichkeit ihr Lebensgefühl – ihre Hoffnungen, Enttäuschungen und ihre Verzweiflung – auszudrücken. Bald bemächtigte sich das lokale Rotlichtmilieu des Tangos, um dessen erotisierende Tanzfiguren zur Animation potentieller Kunden, aber auch für ein hahnenkampfähnliches Balz- und Imponiergehabe einzusetzen. Die frühen Tangolieder spiegeln diese lebensweltlichen Bezüge durchaus wider, den sozialen „Überlebenskampf, Lust, Eifersucht und Gewalt. Die Texte berichteten von Kriminalität, geschändeten Frauen und verlassenen Männern. Die Tanzfiguren waren voller Ekstase und Aggressivität, enthielten bisweilen Rituale von Misshandlungen und wechselseitiger Bedrohung.“ (Astrid Haase-Türk: Tango Argentino – eine Liebeserklärung. Tanzkurs, Kult und Sinnlichkeit. München: blv o.J., S. 11 f.)

Wie andere zunächst „anrüchige“ Tänze (vgl. die Geschichte des Walzers) wurde der Tango in der Folge von der „besseren Gesellschaft“ entdeckt und kultiviert. Mit den Sprösslingen der argentinischen Oberschicht, die man zum Studium nach Paris schickte, erreichte er um 1900 Europa und löste dort eine Welle der Begeisterung aus, die bald auch Deutschland erfasste. Im Laufe des 20. Jahrhunderts lösten sich mehrere solcher Konjunktur-Phasen mit Zeiten relativer Missachtung ab, deren Wechsel wir hier nicht näher begründen müssen. Donna Clara fällt in die zweite deutsche Tango-Welle, die nach der großen Weltwirtschaftskrise von 1929 einsetzte.

Die Melodie des Schlagers war allerdings schon 1928 von dem Warschauer Komponisten und Orchesterleiter Jerzy Petersburski – zunächst als reines Instrumentalstück – für eine Revue geschrieben worden (zur Vorgeschichte und auch zur musikalischen Struktur vgl. ausführlich http://de.wikipedia.org/wiki/Oh,_Donna_Clara). Bei einer Tournee des polnischen Orchesters nach Wien fiel der Schlager einem dortigen Musikverlag auf, der sich die Verwertungsrechte sicherte und den bekannten Librettisten Fritz Löhner-Beda (vgl. Barbara Denscher und Helmut Peschina: Kein Land des Lächelns. Fritz Löhner-Beda 1883-1942. Salzburg u.a.: Residenzverlag 2002) beauftragte, einen passenden deutschen Text zu finden.

Löhner-Beda kannte den deutschen Markt der ,leichten Muse’ wie kaum ein zweiter. Er wusste um die erotische Faszination des Halbweltmilieus, aber ihm war genau so klar, dass die „dreckigen“, aggressiven Texte der argentinischen Tangotradition vom deutschen Massenpublikum nicht akzeptiert werden würden. Er löste das Problem mit Hilfe des Kunstgriffs ironischer Distanzierung. In seinem Erzählgedicht, das m.E. alle wesentlichen Kriterien einer gestandenen Kunstballade erfüllt, bezirzt eine spanische (wirklich?) Tänzerin mit ihren erotischen Bewegungen und ihrem Lachen einen Familienvater aus tiefster Provinz, der sich auf schlüpfriges Parkett gewagt hat, um (auch einmal) besondere Genüsse zu schnuppern. Damit ist zwar im Prinzip die Ausgangskonstellation einer potentiell hochdramatisch-tragischen femme-fatale-Geschichte a là Blauer Engel geschaffen, allein es soll – und muss! – anders kommen: Kaufmännischer Geschäftssinn und preußische Sparsamkeit triumphieren über Gelüste und aufschießende „wilde[] Gefühle“, sobald die getätigten Investitionen keine schnelle Wirkung zeigen.

Der „Genießer“ (was sich bestens auf „Spießer“ reimen würde) kehrt in seinen trauten Familienkreis zurück und konzentriert sich hinfort auf „Gansbraten mit viel Petersilie“. Petersilie zu Gans? Brrrr! Petersilie korrespondiert zunächst den Rosen, wie die Gans der Tänzerin, Billiges aus eigenem Gärtchen bzw. Stall löst Exotisch-Kostbares ab, dafür ist es reell und erreichbar. Vormals galt dieses Küchenkraut als Unglückspflanze, außerdem enthält es den Wirkstoff  Myristicin, dem man halluzinogene Eigenschaften nachsagt. Ich bin nicht sicher, ob Löhner-Beda diese Aspekte für seine Schlusspointe mitgedacht hat. Jedenfalls gönnt er seinem der Versuchung entronnenen Helden nicht das Vollglück der Beschränkung, sondern verfolgt ihn vermittels damals modernster Medientechnik in sein häusliches Idyll: Aus dem Grammophon tönt dessen erotische Phantasie und lässt ihm das Herz in die Hosen rutschen. Wer hat die Donna-Clara-Platte aufgelegt? Er selber im Petersilie-Rausch? Seine Frau, die ihn durchschaut?

Zur ironischen Distanzierung von der erotischen Konstellation dieses Tangos tragen weitere Details des Textes bei. So entlarvt der Saharet-Vergleich des vierten Verses für das zeitgenössische Publikum den falschen Talmi-Glanz der Tänzerin (hinter dem Künstlernamen „Saharet“, einer ebenso berühmten wie skandalumwitterten danseuse excentrique, Muse und Schauspielerin der Vorkriegszeit steckte eigentlich die Australierin Clarissa Rose Campell); der Held wird wiederholt als „Genießer“ tituliert, wobei Tänzerin und Gansbraten als jeweilige Genuß-Objekte parallel geführt werden. Auch die durch chiastische Stellung und Binnenreime betonte Phrase „herrlich, gefährlich sind deine Füße, du Süße“ dient der Komik, insofern sie zunächst an Fehltritte der Tangotänzerin mit spitzen Absätzen denken lässt, bis das nachgestellte Prädikat („zu sehn“) einen anderen (aber eigentlich weniger klaren) Sinn zum Ausdruck bringt. Schließlich darf auch die prüde Vermeidung des Wortes „nackt“ durch die umständlich-schiefe Umschreibung „Ich hab im Traum / dich dann im Ganzen gesehn, / das hat das Maß der Liebe vollgemacht“ als urkomische Formulierung verbucht werden.

All das ist komisch, gewiss. Dennoch scheint mir dieser Geschichte subkutan auch eine gehörige Portion Tragik mitgegeben worden zu sein, womit sie dann doch wieder die existentielle Tiefe alter Tango-Tradition erreicht: Ein Mann von fünfzig Jahren (Goethe lässt grüßen!) wagt einen Ausbruch aus seinem spießigen Leben. Dieser misslingt gründlich – weil Donna Clara ihn nicht (gleich) erhört, weil er kniestig, verklemmt und feige ist. Von heißem Begehren gebeutelt, kann er sich sein Objekt der Begierde selbst im Traum nicht „nackt“, sondern nur „im Ganzen“ vorstellen, nach freudianischem Lehrbuch verschiebt er seine Phantasien auf die am wenigsten heiklen Körperpartien der Tänzerin, ihre „Mitte“ (womit hier die Taille gemeint ist)  bzw. ihre „Füße“, die ihm gleichwohl schon „herrlich“ und „gefährlich“ erscheinen. Nein, dieser Mann war nie in Gefahr, einer femme fatale zu verfallen, das Leben hat ihn längst auf „Dichtung“, Gansbraten und Petersilie programmiert.

Hans-Peter Ecker, Bamberg

P.S. Das Lied wurde auch in jüngerer Zeit von diversen Interpreten gespielt, z.B. von Max Raabe & das Palastorchester, Pasadena Roof Orchestra (englicher Text, mit Tanzeinlage), The Bates (Punk), Kapelle Josef Menzl („volkstümlich“).

Über deutschelieder
“Deutsche Lieder” ist eine Online-Anthologie von Liedtextinterpretationen. Liedtexte sind die heute wohl meistrezipierte Form von Lyrik, aber zugleich eine in der Literaturwissenschaft vergleichsweise wenig beachtete. Die Gründe für dieses Missverhältnis reichen von Vorurteilen gegenüber vermeintlich nicht interpretationsbedürftiger Popkultur über grundsätzliche Bedenken, einen Songtext isoliert von der Musik zu untersuchen, die Schwierigkeit, eine editorischen Ansprüchen genügende Textfassung zu erstellen, bis zur Problematik, dass, anders als bei Gedichten, bislang kaum ein Korpus von Texten gebildet worden ist, deren Interpretation interessant erscheint. Solchen Einwänden und Schwierigkeiten soll auf diesem Blog praktisch begegnet werden: indem erprobt wird, was Interpretationen von Songtexten leisten können, ob sie auch ohne Einbeziehung der Musik möglich sind oder wie eine solche Einbeziehung stattfinden kann, indem Textfassungen zur Verfügung gestellt werden und im Laufe des Projekts ein Textkorpus entsteht, wenn viele verschiedene Beiträgerinnen und Beiträger ihnen interessant erscheinende Texte vorstellen. Ziel dieses Blogs ist es nicht nur, auf Songtexte als möglichen Forschungsgegenstand aufmerksam zu machen und exemplarisch Zugangsweisen zu erproben, sondern auch das umfangreiche Wissen von Fans zugänglich zu machen, das bislang häufig gar nicht oder nur in Fanforenbeiträgen publiziert wird und damit für die Forschungscommunity ebenso wie für eine breite Öffentlichkeit kaum auffindbar ist. Entsprechend sind nicht nur (angehende) Literaturwissenschaftler/-innen, sondern auch Fans, Sammler/-innen und alle anderen Interessierten eingeladen, Beiträge einzusenden. Dabei muss es sich nicht um Interpretationen im engeren Sinne handeln, willkommen sind beispielsweise ebenso Beiträge zur Rezeptions- oder Entstehungsgeschichte eines Songs. Denn gerade die Verschiedenheit der Beiträge kann den Reiz einer solchen Anthologie ausmachen. Bei den Interpretationen kann es schon angesichts ihrer relativen Kürze nicht darum gehen, einen Text ‘erschöpfend’ auszuinterpretieren; jede vorgestellte Lesart stellt nur einen möglichen Zugang zu einem Text dar und kann zur Weiterentwicklung der skizzierten Überlegungen ebenso anregen wie zum Widerspruch oder zu Ergänzungen. Entsprechend soll dieses Blog nicht zuletzt ein Ort sein, an dem über Liedtexte diskutiert wird – deshalb freuen wir uns über Kommentare ebenso wie über neue Beiträge.

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