Liedtexte dürfen weh tun. Wie das Verwaltungsgericht Köln die Interpretation gerettet hat – Rammstein: „Ich tu dir weh“
31. Oktober 2011 Hinterlasse einen Kommentar
–
Rammstein Ich tu dir weh Nur für mich bist du am Leben Ich steck dir Orden ins Gesicht Du bist mir ganz und gar ergeben Du liebst mich denn ich lieb dich nicht Du blutest für mein Seelenheil So ein kleiner Schnitt und du wirst geil Der Körper schon total entstellt Egal erlaubt ist was gefällt Ich tu dir weh Tut mir nicht leid Das tut dir gut Hört wie es schreit Bei dir hab ich die Wahl der Qual Stacheldraht im Harnkanal Leg dein Fleisch in Salz und Eiter Erst stirbst du doch dann lebst du weiter Bisse Tritte harte Schläge Nageln Zangen stumpfe Säge Wünsch dir was ich sag nicht nein Und führ dir Nagetiere ein Ich tu dir weh Tut mir nicht leid Das tut dir gut Hört wie es schreit Du bist das Schiff ich der Kapitän Wohin soll denn die Reise gehen Ich seh im Spiegel dein Gesicht Du liebst mich denn ich lieb dich nicht Ich tu dir weh Tut mir nicht leid Das tut dir gut Hört wie es schreit [Rammstein: Liebe ist für alle da. Universal 2009.]
„Was verboten ist, macht uns gerade scharf“ konstatierte Wolf Biermann in seinem gleichnamigen Lied und lieferte damit eine eingängige Formulierung für ein bekanntes Phänomen – schon das Blaubart-Märchen setzt den besonderen Reiz des Verbotenen als psychische Gesetzmäßigkeit voraus. Bezogen auf wegen ihrer Texte zensierte Popmusik bedeutet dies, dass sich insbesondere jugendliche Hörer bemühen dürften, sich das ihnen vorenthalten werden Sollende zu beschaffen – was durch das Internet und insbesondere durch Videoplattformen wie Youtube, die zwar auf als anstößig eingestufte Bilder mit Sperrung von Videos reagieren, gegen textliche Normverstöße aller Art in der Regel aber nichts unternehmen, auch ohne größeren Aufwand möglich ist. Der unmittelbare jugendschützerische Nutzen der Indizierung von Tonträgern steht damit mehr in Frage denn je. Das bedeutet jedoch nicht, dass Indizierungen den betroffenen Bands nicht schadeten oder ihnen gar nutzten, wie zuweilen angeführt wird. Zwar gibt es Fälle, in denen eine Indizierung zur Legendenbildung beigetragen hat (in Deutschland trifft dies insbesondere für Die Ärzte und Die böhsen Onkelz zu), jedoch bedeutet eine Indizierung zunächst einmal finanzielle Einbußen für eine Band, da der Vertrieb eines oder mehrerer Tonträger massiv eingeschränkt wird. Und an diesem Punkt setzt eine mittelbare Wirkung ein, die mit Blick auf die Kunstfreiheit und das grundgesetzliche Verbot einer Vorzensur sehr problematisch erscheint: Um Einbußen zu vermeiden, könnten Bands Texte, die eventuell bei Gremiumsmitgliedern der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien Bedenken hervorrufen könnten, von vornherein nicht veröffentlichen oder ändern.
Schon aufgrund solcher grundsätzlichen Überlegungen erscheint es erfreulich, dass das Verwaltungsgericht Köln am 25. Oktober der Klage gegen die 2009 auf Antrag des Familienministeriums erfolgte Indizierung des Rammstein-Albums „Liebe ist für alle da“ stattgegeben hat. Betrachtet man die damalige Indizierungsbegründung genauer, so wird deutlich, welche weitreichenden Folgen für die zukünftige Indizierungspraxis und damit indirekt auch dafür, was in Deutschland gesungen wird, es gehabt hätte, wenn diese Indizierung Bestand gehabt hätte. Das Gremium der BpjM führt zum Text des Lieds Ich tu dir weh, der ein wesentlicher Grund für die Indizierung war, Folgendes aus:
Nach Auffassung des Gremiums dominieren im Lied jedoch die befürwortenden Aussagen wie „Egal erlaubt ist was gefällt“ und „Ich tu dir weh. Tut mir nicht leid“ (letztere Zeile wird zweimal wiederholt), so dass etwaig kritisch gemeinte Einschübe nicht zu einer Relativierung der benannten Textpassagen führen. (Entscheidung Nr. 5682 vom 5.11.2009, S. 18)
Dieser Abschnitt der Indizierungsbegründung erweckt den Eindruck, als sei es selbstverständlich, abzuwägen, welche Aussagen dominierten. Macht man sich die Alternative klar, wird jedoch deutlich, dass es hier um die Verweigerung einer Interpretation zugunsten eines quantifizierenden Verfahrens geht. Es wird gar nicht erst versucht, die einzelnen vom Sprecher-Ich getätigte Aussagen in Relation zueinander zu setzen und so zu einer in sich schlüssigen Lesart des Textes zu kommen. Stattdessen werden Verse addiert, in denen, isoliert betrachtet, Bedenkliches formuliert wird, und werden als relativierend wertbare davon dividiert – ist das Ergebnis > 1, gilt der Text als bedenklich. Dass dabei offenbar sogar Wiederholungen mitgezählt werden sollen, verdeutlicht, dass das implizierte Bild des Textrezipienten das eines Menschen ist, der einerseits nicht genau auf den Text hört (und diesen auch nicht im ausdrücklich mitindizierten Booklet nachliest), sich andererseits aber von en passant Aufgeschnapptem in seinen Haltungen und Handlungen beeinflussen lässt. Die Vorstellung des insbesondere jugendlichen Rockrezipienten als Opfer ihn ohne sein Wissen manipulierender diabolischer Mächte hat eine lange Tradition, eine ihrer bizarrsten Ausprägungen stellte die Suche nach auf Rockplatten verborgenen Botschaften dar, die angeblich hörbar wurden, wenn man die Platten rückwärts abspielte. Dass den jugendlichen Rezipienten selbst relativ simple hermeneutische Fähigkeiten selbst beim Erschließen des Literalsinns abgesprochen werden, wird im weiteren Verlauf der Begründung sogar expliziert:
Die Zeile „Ich seh im Spiegel dein Gesicht“, aus der sich nach Angaben des Verfahrensbevollmächtigten ergibt, dass der Sänger in Wirklichkeit von der Selbstverletzung einer schizophrenen Persönlichkeit spricht und nicht von der Verletzung einer anderen Person, ist nach Ansicht des Gremiums von Jugendlichen so nicht zu dekodieren. Gerade weil auch diese Textpassage die Anrede einer zweiten Person beinhaltet („dein Gesicht“), wird die Gewalt nach Meinung der Beisitzerinnen und Beisitzer von der weit überwiegenden Anzahl der jugendlichen Hörerinnen und Hörer als auf eine andere Person gerichtet wahrgenommen, zumal es sich nicht ausschließt, in einem Spiegel neben dem eigenen Gesicht auch das einer weiteren Person zu sehen, sofern sich diese in der Nähe befindet. (ebd.)
Auch wenn die Beobachtung, dass mehrere Personen vor einem Spiegel stehen und dann in diesem auch sichtbar sein können, physikalisch nicht zu beanstanden ist, so stellt sie doch eine Zusatzannahme dar, die es bei Interpretationen eher zu vermeiden gilt. Und die von der BpjM implizit vorgeschlagene Textänderung zu „Ich seh im Spiegel mein Gesicht“ hätte den Text komplett seiner Pointe beraubt, indem dann ja tatsächlich kein Hinweis darauf, dass es sich um ein und die selbe Person handeln könnte, vorhanden wäre. Zudem wird gar nicht erst darauf eingegangen, dass sich einige vorangegangene Verse zwar problemlos in eine Schizophrenielesart integrieren lassen, in eine von zwei Figuren ausgehende aber nur schwer: „Nur durch mich bist du am Leben“ müsste dann wörtlich genommen als Hinweis auf Elternschaft verstanden, könnte aber auch noch allgemein als Beschreibung totaler Verfügungsgewalt gelesen werden. Doch spätestens bei „Erst stirbst du doch dann lebst du weiter“ wird die Generierung einer realistischen Lesart schwierig.
Wäre der hier praktizierte Umgang mit Liedtexten unbeanstandet geblieben, so hätten sich zukünftige indizierungswillige Gremien nicht einmal mehr darum bemühen müssen, eine in sich schlüssige indizierungswürdige Lesart zu konstruieren (das Gebot der kunstfreundlichen Auslegung von Gesetzen und der gesetzesfreunlichen Auslegung der Kunst, das eigentlich einen noch weiterreichenden Schutz garantiert, gilt ohnehin nicht, wenn es um Belange des Jugendschutzes geht). Auch wenn das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln allgemeiner argumentiert, so könnte es doch dazu beitragen, dass bei zukünftigen Indizierungsentscheidungen eine intensivere Auseinandersetzung mit den beanstandeten Texten stattfindet. Denn unabhängig davon, wie man die oben diskutierte Wirksamkeit von Indizierungen beurteilt und wie man politisch das Verhältnis von Jugendschutz und Kunstfreiheit gestaltet, – eine Spruchpraxis, in der nicht eine konkrete, aus dem Text konstruierte Aussage zu einem Thema, sondern allein dessen Beschreibung als Indizierungsgrund ausricht, würde Tabus in den Rang schutzwürdiger Rechtsgüter erheben und damit Rockmusik, zu deren ästhetischen Strategien die Grenzüberschreitung schon traditionell gehört, als Medium jugendlicher Selbstverständigung in Frage stellen.–
Martin Rehfeldt